Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Gisela Steineckert: Wegen damals und heute

Umarmungen in Gedanken

Gisela Steineckert: Ein ganzes Leben in einem Buch von Briefen

Irmtraud Gutschke

Lesend spürt man, wie gut es der Autorin tat, noch einmal Freunde und Wegbegleiter um sich zu versammeln, Leserinnen und Leser, die sich an sie wandten, Interpreten ihrer Lieder – ja auch Briefe an mich sind enthalten. Aber dazu später. Ein wenig Rätselraten gehört zur Lektüre. Weil es ja höchst persönliche Schreiben sind, nennt Gisela Steineckert ihre Adressaten nur mit ihren Vornamen. Niemand sollte sich vorgeführt fühlen und sich hinterher gar beschweren müssen. Ohnehin liest man dieses Buch ja, weil man etwas über die Autorin erfahren will.

Am 13. Mai wird sie 94. Da kann sie nicht mehr kreuz und quer durchs Land von einer Veranstaltung zur anderen reisen. Auch wenn sie das noch so gerne tun würde. Da ist sie auch zu Hause schon mitunter auf Hilfe angewiesen. Und es soll nicht verheimlich sein: Die Arbeit an diesem Buch war ein Gemeinschaftswerk. Enkelin Laura half ihr, die Briefe aus 25 Jahren zu sichten und die interessantesten auszuwählen. Und das, man spürt es beim Lesen, muss eine große Freude gewesen sein. Denn jeder Brief stieß ja Erinnerungen an. Man kam ins Erzählen – was Menschen umso mehr brauchen, wenn sie älter werden. Gegen das Alleinsein. Aber Gisela Steineckert hat das große Glück: Sie lebt in ihrer Wohnung, ihrem gewohnten Umfeld, aber sie ist nicht allein.

Tochter Kirsten, Enkelin Laura, Urenkelin Leni Marie und viele Freunde. Das muss sie trösten, nachdem sie ihren Mann Wilhelm am 20. Dezember 2016 verloren hat. Wie schwer die Zeit war, als er an Parkinson erkrankte, als er erblindete und sich in seinem Wesen auch veränderte, sie macht daraus keinen Hehl. Überhaupt öffnet sie ja ihr Herz in ihren Briefen. Und wir lesen vom Glück einer großen Liebe und Vertrautheit, das ihr in schweren Zeiten auch immer wieder Kraft geschenkt hat. Als Wilhelm krank wurde, haben beide sogar noch kirchlich geheiratet. Und sie hat es nicht über sich gebracht, den geliebten Mann in fremder Pflege allein zu lassen. Sie mietete sich mit ihm zusammen ins Pflegeheim ein und begleitete ihn all die schweren Tage, sodass er in ihren Armen starb.

Wie Älterwerden auch tapfer sein bedeutet, erfahren wir beim Lesen. Und wie diese Tapferkeit wächst, indem man sich nicht in sich verkriecht, sondern anderen Menschen Zuspruch spendet. Das ist Gisela Steineckerts große Gabe: Andere ganz nah an sich heranzulassen, sich ihnen zu öffnen, ja in sie hineinzublicken. Lebensrat – davon leben ja auch ihre Gedichte und Lieder, die sie Sängerinnen und Sängern sozusagen auf den Leib geschrieben hat. 4000 Liedtexte, über 40 Bücher, zu DDR-Zeiten noch 10 Filmszenarien und fünf Hörspiele hat sie verfasst – und sich bei dieser Arbeit so wunderbar lebendig gefühlt, dass die Resonanz darauf ein zusätzliches Geschenk gewesen ist. Jürgen Walter, Dirk Michaelis, Veronika Fischer, Frank Schöbel … Sie alle sind hier noch einmal versammelt, zusammen mit Egon Krenz, Walter Kaufmann … Und dazu viele mir Unbekannte, die sich nun freuen werden, wie ihrer gedacht worden ist.

Tonnenweise Papier hätten sie zusammen gesichtet, sagte Laura am Telefon. So eine Fülle an Material, das sonst brach gelegen hätte und das immer wieder zu sortieren war. Gisela Steineckert hat ja Tausende von Briefen geschrieben. Und hinter jedem von ihnen Menschengeschichten. Ein ganzes Leben ist in diesen Briefen. Die elende Kindheit mit einem trinkenden Vater und einer unzuverlässigen Mutter, die Kraft schon des kleinen Mädchens, daran nicht zu zerbrechen, sondern für sich zu lernen, wie sie alles anders machen würde. Sie gehört ja zu jenen, die den Krieg noch erlebt haben. Die also auch wissen, was das bedeutet und den „Einfachen Frieden“ (so heißt ein besonders eingängiges Lied von ihr) für so wichtig halten wie nur irgendwas. Die Zeit in der DDR mit Singebewegung, im Komitee für Unterhaltungskunst – immer wieder macht sie ich über die politischen Veränderungen seither Gedanken. Unablässig blitzen Erinnerungen auf, die man beim Lesen, zugegeben, auch sortieren muss. Stets hat sie ihre Meinung gesagt, und das tut sie auch jetzt. „Dass ich mich immer getraut habe, ganz zu leben und vor fast keinem Risiko zurückzuschrecken“, gibt ihr auch heute Kraft. „Ohne meine Irrtümer, ohne meine Erfahrungen, ohne meinen lebenslangen Blick und nimmermüdes Interesse an anderen Menschen, nur aus der Bildung heraus, das hätte nicht zugereicht.“

Briefbände von ihr hatte es ja schon 1984 und 1998 gegeben. Da schließen sich nun die Jahre von 1999 bis 2023 an. Das war wichtig, meint Laura, weil es ein Stück Zeitgeschichte ist und weil dieses Projekt ihr auch gut getan hat. „Die Arbeit ist mein Leben“, sagt Gisela Steineckert, und das gilt auch jetzt. Vom „Glücksgefühl des Erzählens“ spricht sie und manchmal auch von Überforderung. Wie sie ja überhaupt sehr gut weiß, mit wie vielen Anforderungen gerade Frauen in ihrem Leben zurechtkommen müssen. Umarmungen in Gedanken. Eine liebevolle Ratgeberin ist sie. „Wenn ich etwas für dich tun kann, dann lass es mich wissen“ – was sie schreibt, habe ich auch mehrmals von ihr gehört.

Wir haben ja 2013 ein Gesprächsbuch zusammen gemacht: „Das Leben hat was“. Inzwischen ist es sogar antiquarisch ausverkauft. Wie viele es gerne in ihren Händen hätten, höre ich immer wieder. Und ich flehe den Verlag an, es wieder aufzulegen. „Ich habe kein Ich für das Nichtstun entwickelt“, lese ich in ihrem Brief vom 16. Mai 2015 an mich. „Wenn ich nicht tätig bin, und sei es, dass ich in karger Zeit lese, dann bin ich Niemand, dann verliere ich alles, was mich trägt, was neue Kraft aus mir herausholt, was Schmerzen vorübergehend wegnimmt , und was mir das Gefühl gibt, lebendig zu sein.“ Also möge nach diesem Buch schon ein neues Projekt am Horizont auftauchen.

Gisela Steineckert: Wegen damals und heute. Briefe. Verlag Neues Leben, 303 S., geb., 20 €.   

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