Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Jürgen Todenhöfer: Und folgt dir keiner, geh allein

„Lebe jeden Tag wie ein ganzes Leben!“

Irmtraud Gutschke

„Hier stehe ich. Ich kann nicht anders“, mit diesen Worten hat sich Luther 1521 vor dem Wormser Reichstag geweigert, seine Lehren zu widerrufen. „Und folgt dir keiner, geh allein“ – wie gut der Titel dieses neuen Buches von Jürgen Todenhöfer dazu passt! Ein Eigenständiger, ein Mutiger, der seinem Gewissen folgt. Ein Abenteuerlustiger auch, einer der anderen Mut machen kann.“

Was für ein Leben! Über wie viele Klippen ist er gegangen! Mit 60 Jahren ist er aus der CDU ausgetreten, für die er ja sogar von 1972 bis 1990 Bundestagsabgeordneter war, und gründete „Die Gerechtigkeitspartei – Team Todenhöfer“. Da denkt man – bei allen Unterschieden – sofort an das „Bündnis Sahra Wagenknecht“, das immerhin in mehreren ostdeutschen Landtagen und Regierungen vertreten ist, aber 2025 ebenso nicht die Fünfprozenthürde in den Bundestag schaffte. Zahlreiche Bücher hat er geschrieben und von den Honoraren „u.a. ein Kinderheim in Afghanistan und ein Kinderkrankenhaus in Kongo gebaut sowie zusammen mit dem israelischen Schriftsteller David Grossman ein israelisch-palästinensisches Versöhnungsprojekt finanziert“, wie es im Klappentext seines neuen Buches heißt.

„Geschichte eines Lebens“ heißt der Band im Untertitel. Mit 84 Jahren fand es Jürgen Todenhöfer wohl an der Zeit, seine Erinnerungen mal in einem Buch zusammenzufassen. Auch für sich selbst, um sein faszinierendes Leben noch einmal Revue passieren zu lassen. Nachdenklich darüber, welche Wendungen es nahm. Wie es ihn prägte, dass sich sein jüngerer Bruder mit 22 das Leben nahm, überlegt er, wie er die Schecken der Bombennächte im Zweiten Weltkrieg nie vergessen konnte, wie er zum „Wahrheitssucher“ wurde.

Rund um die Welt hat ihn das getragen: vom Mittleren Osten, nach Lateinamerika und Asien. In Kuba, Vietnam, China und den USA war er unterwegs. Und immer wieder verarbeitet er seine Erlebnisse in Geschichten, so mitreißend, dass man das Buch nicht aus der Hand legen möchte. Nicht jeder wäre wie er als ganz junger Mann an Bord eines schrottreifen Dampfers in Marseille gegangen, um nach Algier zu kommen. Die Folgen des französischen Krieges gegen die FLN, die algerische Befreiungsfront, waren für ihn ein Schock. Fortan wurde das Engagement „gegen die Ungerechtigkeiten in der Welt“ zur Maxime seines Lebens.

Sohn eines Richters, war er zunächst dem Weg seines Vaters gefolgt, hatte Rechts- und Staatswissenschaften studiert, promovierte, bekam mit 32 eine Richterstelle, hätte sich darin fürs ganze Leben bequem einrichten können. Aber er wurde zum Bundestagskandidaten gewählt („Diese Kombi machte mir richtig Spaß.“) Das Besondere an diesem Buch ist tatsächlich, wie freimütig offen der Autor von sich erzählt, wie man sich in seine Gedankenwelt einfühlen kann. Dabei geht es immer auch um ganz Privates, wie einen Skiunfall in St. Moritz und den anschließenden zornigen Anruf von Helmut Kohl. Dass Todenhöfer für viele Journalisten damals ein Paradiesvogel war, kann man sich vorstellen. Aber von vornherein in sich sicher war er über seine Ziele: „Krieg und jede Form von Rassismus zu ächten“ und „mitzuhelfen, die fatale Teilung Deutschlands zu überwinden“.

Das Herzstück des Buches sind gewiss Berichte von seinen Reisen in Krisengebiete. Heutigen Lesern mag es vielleicht gar nicht mehr bewusst sein, mit welchen Mitteln NATO-Mitglied Portugal gegen die Unabhängigkeitsbewegung in Mosambik vorging. Das Buch lesend, begreift man: Schon damals fand ein Weltordnungskrieg statt. War es nicht problematisch, sich auf eins Zusammenkunft mit dem Diktator Pinochet einzulassen? Aber der Autor kann sich zugute halten, dass es der Freilassung von politischen Gefangenen diente.

Todenhöfer hatte immer wieder schwierige Entscheidungen zu treffen, wurde auch kritisiert. Doch was für großartige Erlebnisse hatte er! Wem alles er gegenübersaß: Indira Gandhi, Ramón Castro, Michail Gorbatschow. Zu Fuß erkundete er Afghanistan nach dem sowjetischen Einmarsch dort, traf sich dann in Moskau mit Marschall Achromejew zum Mittagessen … Da überlegte ich, wie verbreitet inzwischen die Scheu geworden ist, Meinungsverschiedenheiten auszuhalten. Jürgen Todenhöfer führt vor Augen: Man kann mit jedem reden, wenn man sich der eigenen Überzeugungen sicher, aber auch bereit ist zuzuhören.

Nach dem Anschlag von 9/11 schrieb er einen Brief an George W. Bush mit der Bitte, nicht noch einen Krieg gegen Afghanistan zu führen, und er bat Mullah Omar, das Staatsoberhaupt des Islamischen Emirats Afghanistan, Osama bin Laden auszuliefern. „Bush ließ sich nicht aufhalten.“ Eine „Überreaktion“ in schwieriger Lage? Später begriff er, dass es mit Kriegsplänen gegen sieben weitere Staaten darum ging, „frühere Kundenregime der Sowjetunion wegzuräumen“, wie lange vor 9/11 der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz gegenüber General Wesley Clark bekundete.

Westliche Kriegsverbrechen in Afghanistan, „Irak – der Wahnsinn geht weiter“, die westliche Diffamierungskampagne gegen alles Islamische, der Libyen-Krieg, die syrische Tragödie … bis hin zum Gaza-Konflikt, der schon lange schwelte, den Huthi-Raketen auf Israel und der Palästina-Frage überhaupt (dazu gibt es im Buch überaus ausführliche Analysen). Todenhöfer war in Iran, in Saudi-Arabien, in Kongo. Nie fiel er auf einfache Gut-Böse-Schemata herein, mit denen uns die offizielle deutsche Berichterstattung auch heute bezüglich des Ukraine-Konflikts überschwemmt.

Er recherchierte in Kiew wie in Moskau, forscht nach, was es an inneren und äußeren Interessen gibt. Er entwirft eine Verhandlungslösung und spricht sich ausdrücklich für den Stopp aller gegen Russland gerichteten Waffenlieferungen und Sanktionen aus. Die seltsame Situation, dass einem US-amerikanischen Präsidenten dieser Krieg inzwischen zu teuer wird, die Europäer aber darauf bestehen, ihn bis zum letzten Ukrainer weiterzuführen und gar einen Atomkrieg mit Russland zu riskieren, ist noch nicht Gegenstand des Buches.

Gerade kündigte Kanzler Merz an, weitreichende Waffen an die Ukraine zu liefern. Und Deutschland soll durch riskant hohe Kredite kriegstüchtig werden. Geistige Mobilmachung für einen Fall, der um Gottes Willen nie eintreten möge. Es wird brenzlig, lieber Herr Todenhöfer. Denken Sie jetzt nicht über ihren Tod nach, 84 Jahre ist noch kein Alter. Dieses Land braucht Ihre Stimme. „Lebe jeden Tag wie ein ganzes Leben!“ Das ist schließlich Ihre Devise.

Jürgen Todenhöfer: Und folgt dir keiner, geh allein. Geschichte eines Lebens. C. Bertelsmann, 460 S., geb., 24 €.

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