Wenn die Maske einwächst
Irmtraud Gutschke
Für dieses Buch wird ein anderes in meinem Bücherschrank den Platz räumen müssen. Obwohl es schon von mehreren Autoren Wortmeldungen zu diesem Thema gab – allen voran von Andreas Reckwitz „Die Gesellschaft der Individualitäten“ -, bietet Martin Hecht eine so eingängige Analyse dieses Phänomens der Selbstdarstellung, dass ich tatsächlich immer mal wieder nachschlagen möchte. Ich weiß ja: Im Neoliberalismus erfolgt die Ausbeutung nicht lediglich von außen, werden Menschen auf Selbstausbeutung getrimmt. Sie geben die ihnen versprochene Freiheit auf, um sich aus eigenem Wunsch auf eine Weise anzupassen, die sie selbst schon nicht mehr wahrnehmen.
Aber „Verstellung ist harte Arbeit“ und wird nicht immer als solche erkannt. Da lebt das Buch von genauen Beobachtungen: vom falschen Lächeln bis zu den Sneakern, von der Kunst des Auffallens bis zur „neuen Herzlichkeit“, von er Selbstironie bis zum Vortäuschen falscher Gefühle, von rhetorischen Ablenkungsmanövern und Opferlust. So hilft uns Martin Hecht, Verstellung zu erkennen. Andererseits könnte es fast ein Lehrbuch sein, wie man sie anwendet. Allerdings ist es fast nicht anzunehmen, dass passionierte Selbstdarsteller dieses Buch lesen. Wollen sie sich etwa einen Spiegel vorhalten lassen? Denn so klar derlei individuelle Verhaltensweisen aus den gesellschaftlichen Bedingungen allgegenwärtiger Konkurrenz und Entfremdung resultieren, sind sie doch für den Einzelnen wie eine Notwendigkeit, eine Krankheit, auf die man sogar noch stolz ist. An Heilung besteht kein Interesse, ja sie wird sogar verwehrt, weil man eine Beschädigung des Selbst befürchtet. Die Maske, die man trägt, ist eingewachsen.
„Alles ist Bühne der Selbstdarstellung, die Arbeitswelt, die Bar, die Kneipe bei der Afterwork-Party nach Feierabend, die Welten von Freizeit und Urlaub, die sozialen Orte von Partnerschaft, Familie, Freundschaft und Verein, Parteien oder Verbände, in denen man sich bewegt“, heißt es im Buch. Man braucht nicht mal den Fernsehapparat einzuschalten, muss sich nur mal in der Berliner Innenstadt eine Weile auf eine Bank setzen, um zu beobachten, wie da Leute vor sich selbst Theater spielen. Die sind nicht echt und merken es nicht.
Dazu passt ein Witz, der lange im Osten kursierte: „‚Warum brauchen die im Westen 13 Jahre bis zum Abitur, wir im Osten aber nur zwölf?‘ ‚Weil im Westen ein Jahr Schauspielunterricht dabei war!'“ Tatsächlich musste uns, denen in einer auf Gemeinschaftlichkeit getrimmten Gesellschaft der eigene aufrechte Gang so wichtig war, das eingeübt Geschmeidige in den alten Bundesländern seltsam erscheinen. Das Gefühl, dabei nicht mithalten zu können, mochte für manche war zunächst auch frustrierend gewesen sein.
Inzwischen hat sich das geändert. Martin Hecht könnte einer beifälligen Fröhlichkeit gewiss sein, würde er sein Buch in den neuen Bundesländern präsentieren. Dankbarkeit, weil er deutlich ausgesprochen hat, was viele spüren und selbstbewusst für sich ablehnen. Mehr noch: Dieses ganze Theater haben sie durchschaut. Und man kann sich nur freuen, wenn sie es lachend tun.
Martin Hecht: Das geschmeidige Ich. Die Gesellschaft der Selbstdarsteller. J.H.W. Dietz, 264 S., geb., 26 €.