Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Amélie Nothomb: Psychopompos

Schreiben, dieser Höhenflug

Irmtraud Gutschke

Es war der Kronenkranich auf dem Titelbild, der mich zu diesem Buch zog. Den Titel musste ich erst nachschlagen: „Psychopompos“ ist ein griechisches Wort und heißt „Führer der Seelen“. Da erinnerte ich mich gleich, dass es in der chinesischen Mythologie Kraniche sind, die die Seelen der Verstorbenen ins Jenseits tragen.

Und das Buch beginnt auch mit einer Kranich-Geschichte. Da wünscht eine schöne junge Frau, von einem Stoffhändler geheiratet zu werden. Da sie keine Mitgift mitbringt, verspricht sie, ihm einen wunderschönen Stoff zu weben, aber niemand dürfe ihr dabei zusehen. Der Stoff ist so schön, dass ihr Mann immer mehr davon will. Bad verlässt die junge Frau kaum mehr ihr Atelier. Zusehends verfällt sie. Irgendwann hält es der Mann nicht mehr aus und dringt in ihre Werkstatt ein. Da sieht er einen prächtigen weißen Kranich, der sich noch seine letzten Federn ausreißt …

Wer diesen Roman zur Hand nimmt, sollte sich auf so etwas träumerisch Geheimnisvolles einstellen. Lesend versteht man, dass es keine Pose ist, sondern zum Wesen der Autorin gehört, die 1967 in Kobe, Japan, geboren wurde. Das Foto im Buch zeigt sie japanisch geschminkt. Und auch das passt: Amélie Nothomb liebt es durchaus, sich in Szene zu setzen.

Nun, das tun heutzutage fast alle Autorinnen, könnte man einwenden. Aber bei ihr ist es wohl etwas Besonderes. Fast will es einem scheinen, dass sie auch etwas in sich verbergen muss, wobei sie doch so offenherzig von sich selbst erzählt. Dieser Roman ist stärker noch als die vorangegangenen ihre eigene Geschichte: Wie sie als Kind eines belgischen Diplomaten aufwuchs, mit fünf aus Japan herausgerissen wurde, nach China kam, nach New York, nach Bangladesch, Laos. Sie studierte in Brüssel, wo sie sich fremd fühlte, kehrte nach Japan zurück, machte Station in Paris, und in Belgien begann dann ihre Karriere als Schriftstellerin.

Kindern tut es eigentlich nicht gut, sich nirgendwo einwurzeln zu können. Einen Zugvogel könnte man Amélie Nothomb nennen. Und es waren auch die Vögel, die ihr über die Jahre Halt gegeben haben. Sie beobachtete sie, lernte, sie zu bestimmen und an ihrem Gesang zu erkennen. So viele Vögel kommen in diesem Buch vor! Wobei das Mädchen irgendwann den Eindruck hatte, dass die Vögel in ihr waren. Eine besondere Art von Beseeltheit, durch die sie sich – unbewusst wohl – schützte. Wovor konkret sie sich schützen musste? Man muss genau lesen. In weit über zwanzig Romanen – alle bei Diogenes erschienen und seit 2004 von Brigitte Große übersetzt – hat sie es angedeutet.

Zuallererst wohl vor der Einsamkeit, dem Kind fehlte es an Geborgenheit, an Herzenswärme. Erst als der Vater tot ist, gesteht er ihr, dass er sie liebt. Deshalb musste sie ja einen Psychopompos ins sich erwecken, ja zu einem solchen werden, um den Vater aus dem Jenseits zu sich zu holen. Und die Mutter? In ihrer Abgewandtheit liegt wohl die Wurzel allen Übels. Im Roman „Klopf an dein Herz“ verarbeitet Nothomb diese schwierige Beziehung. „Die Entdeckung der Vögel war für mich die Erfahrung der Sprachlosigkeit.“

Da tauchte sie in ein Universum ein, in dem ohne Worte die Wahrnehmung dominierte. Und sie verwandelte sich. „Ein so flüchtiges Wesen im Blick zu behalten, lehrte mich, das Unfassbare zu lieben.“ Wo für Menschen nichts war, fanden die Vögel „den großartigsten aller Spielplätze. Sie stürzten sich einfach ins Nichts. Was ist Fliegen denn anderes, als sich dem Rausch der Leere hinzugeben?“

Sie war irgendwann selbst in diese Leere gestürzt, war fast bis zum Skelett abgemagert. Sich wieder aufzuschwingen, war eine Leistung, bei der ihr wieder die Vögel halfen. „Von da an hieß schreiben fliegen.“ Seit 1992 hat sie fast jedes Jahr einen Roman veröffentlicht. Wobei es ihr weniger auf das Ergebnis als auf den Vorgang ankommt: „Schreiben ist ein absolutes Privileg. Es gibt keine höhere Gnade.“

Amélie Nothomb: Psychopompos. Roman. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Diogenes, 128 S., geb., 23 €.

Weiter Beitrag

Antworten

 

© 2025 Literatursalon

Login