Eine ganze Wand voller kluger Sprüche
Irmtraud Gutschke
Ein Morgenritual: Aufstehen und erstmal auf den Kalender schauen. Welcher Tag ist heute? Am 1. Januar hat man das natürlich nicht nötig. Man hat die naht zum tag gemacht und weiß, das Neujahr ist und der Kalender für 2026 beginnt. Also das erste Blatt abreißen und vorlesen, was draufsteht: „Am Anfang haben es immer alle lustig.“. – „Na, wie findest du das?“ – „Gut gesagt. Von wem stammt der Spruch?“ – „Daniel Keel“. – „Wer ist das?“ – „Na, der legendäre Diogenes-Verleger. Der Kalender kommt ja auch von Diogenes.“ – „Ist aber nicht alles von Daniel Keel?“ – „Lass dich überraschen.“
„365 kluge Tage“, so wirbt der Verlag. Wer hat die vielen Sprüche wohl ausgesucht? Kein Herausgeber zu finden. Vielleicht war es ja ein Gemeinschaftswerk. Der Titel blieb über die Jahre gleich. Ist ja auch plausibel: Man reißt ein Blatt ab und lässt es los, legt es beiseite, denn wegwerfen wird man es wohl nicht gleich. Aber es steckt auch eine Aufforderung darin: Beginne den Tag und fange erst einmal neu an. Lass möglichst los, was dich bedrückte: „Wer noch nie einen Fehler gemacht hat, hat sich noch nie an etwas Neuem versucht.“ Den Kommentar von Albert Einstein zum 10. April habe ich rein zufällig aufgeschlagen. So wie es viele machen werden, bevor das neue Jahr beginnt: Blättern und sich überraschen lassen. Staunen, schmunzeln, nachdenklich werden. „Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht.“ Stimmt doch, was Rosa Luxemburg sagt, und es steht gut zum 8. März.
„Das Problem ist nicht zu viel künstliche Intelligenz, sondern zu wenig natürliche.“ Stimmt doch, was Wolf Lotter sagt. Der deutsch-österreichische Journalist und Buchautor begegnet mir hier zum ersten Mal, denn neben Berühmtheiten aus der Weltliteratur gibt es hier auch Heutiges. Ich suche das Ermutigende und finde es. Gut, so kann ein Tag beginnen. Aber was tun mit den abgerissenen Blättern. Nicht so einfach wegwerfen, auf jeden Fall. Man kann sie für sich selber sammeln in einer Mappe. Man kann sie auch Briefen beilegen, die man an Freunde und Verwandte schreibt. Aber wer schreibt denn heute noch Briefe? Was ich mir so richtig gut vorstellen kann, ist eine weiße Wand voller kluger Sprüche. Besonders der von Sun Tzu, chinesischer General und Philosoph (544 v. Chr. bis 496 v. Chr.), sei allen Politikern ins Stammbuch geschrieben: „Der weise Krieger ist der, der Kriege vermeidet.“
Abreißen, loslassen. Kalender 2026. Diogenes Verlag, 370 S., 18 €.