„… dass man ein anderes Leben will“
Der Roman „Karen W.“ von Gerti Tetzner kam erstmals 1974 in der DDR heraus und kann ganz heutig wirken
Irmtraud Gutschke
Was für eine Wiederentdeckung aus dem literarischen Osten! Christa Wolf war ja nie vergessen, Brigitte Reimann wurde erst unlängst mit mehreren Ausgaben und einer großen Biographie in Erinnerung gerufen. Nun Gerti Tetzner, die in ihrem Lebensanspruch weit über die DDR hinausweist. An ihrem Roman „Karen W.“ hatte sie seit Mitte der 60er Jahre gearbeitet. 1974 im Mitteldeutschen Verlag Halle erschienen, kam das Buch in der Folge in mehreren Auflagen heraus und wurde auch in der BRD publiziert. Tetzners zweiter Roman ist dann allerdings in die Mühlen der Zensur geraten und unveröffentlicht geblieben. Vielleicht werden wir ihn ja mal zu lesen bekommen. Carsten Gansel, der zum vorliegenden Band ein ausführliches Interview mit der Autorin beisteuerte, ist für seine literarischen Ausgrabungen in Archiven bekannt.
Aufbegehren gegen ideologische Enge: Darin folgte Gerti Tetzner einer Tendenz in der DDR-Literatur. Man las ja damals nicht lediglich zur Unterhaltung. Vor dem Hintergrund einer gegängelten Presse wollte man die eigenen kritischen Fragen wiederfinden. Die hat Gerti Tetzner zunächst nur ihrem Tagebuch anvertraut. Durch Christa Wolf, deren Sommerhaus im Mecklenburgischen sie gelegentlich hütete, lernte sie gleichgesinnte Künstlerinnen und Künstler kennen, die sie zum Veröffentlichen ermutigten.
Dass man sich nicht zufrieden geben darf mit den Lebensmustern der Mütter, konnte mit staatlichen Zielen im Einklang sein. Frauen wurden in der DDR als Arbeitskräfte gebraucht. Aber was weibliches Selbstbewusstsein wirklich bedeutet, wenn es machtvoll erwacht, dieser Roman führt es vor Augen und lässt einen auch heute nicht los.
Mit beeindruckender Unbedingtheit sucht eine junge Frau nach dem ihr gemäßen Leben. „Und so zehn Jahre weiter, zwanzig Jahre? Das war alles?“ Hals über Kopf verlässt sie die Stadt L. und den Mann, den sie eigentlich liebt. Nur ein paar Zeilen für Peters, den Vater ihrer Tochter. Kurz entschlossen holt sie die Siebenjährige aus dem Ferienlager und zieht mit ihr ins ländliche Osthausen. Dort, wo sie selber aufgewachsen ist, will sie durchatmen. Etwas Neues soll beginnen. Mit dem Tierarzt Dr. Steinert vielleicht? Interessant, dieses Geplänkel. Was will er, was sucht sie? „Du bist eine Phantastin“, meint er. „Gegenüber dem Ideal bleibt das Leben immer auch eine Niederlage.“ Aber sie lebt doch nicht im Luftschloss. Steht früh zeitig auf, zieht eine Arbeitskluft über und geht mit den anderen Frauen aufs Kartoffelfeld. Eine studierte Juristin, seltsam. Die Leuten im Ort wundern sich …
Da trifft sich vieles mit dem Lebensweg der Autorin, die ihren Beruf als Notarin an den Nagel hängte, weil sie nicht irgendwann als Richterin über Republikflüchtige urteilen wollte. Mit Gelegenheitsarbeiten hielt sie sich über Wasser. Sie stammt ebenso aus einem thüringischen Dorf. Die Vertrautheit mit dem bäuerlichen Leben spürt man beim Lesen. Allerdings nahm Tetzner dann ein Studium am Literaturinstitut in Leipzig auf. Im Interview mit Carsten Gansel wehrt sich die inzwischen 88-Jährige gegen eine pure autobiographische Deutung des Romans ebenso wie gegen das Medienecho damals im Westen. „Sie haben nur herausgelesen, was gegen die DDR gerichtet war, und haben den breiteren Ansatz nicht gesehen: dass man ein anderes Leben will.“
Karen Waldau war im Dorf das erste Mädchen gewesen, das sich zum Abitur entschloss. Wie sie nun aus der Distanz das Damalige tiefer zu verstehen sucht, auch den Vater, den sie früher schlichtweg für einen Nazi hielt, macht die Lektüre umso eindringlicher. Denn da ist nicht nur Ich-Behauptung. Da ist auch Verantwortungsgefühl für andere, Gemeinsinn, ein waches Gewissen. Dass ihr alter Nachbar verurteilt werden soll, weil er auf dem Hühnerhof der Genossenschaft fahrlässig einen Schaden verursachte, kann sie nicht hinnehmen. Über welche Hürden sie geht, wird nicht klein geredet.
Das Buch ist aus der Ich-Perspektive geschrieben. Es lebt von Karens Agieren und vor allem von ihrer bohrenden Nachdenklichkeit. Auf etwas Ureigenem zu bestehen – gerade in einer aufs Kollektive getrimmten Gesellschaft wie der DDR war das ein Willensakt, der im Roman kraftvoll ausgelebt wird. Doch so aufrichtig, wie er dargestellt ist, legt er zugleich Fragen nahe. Ist da nicht auch Rücksichtslosigkeit gegenüber nahestehenden Menschen? Lag es vielleicht auch an Karen, dass die Beziehung mit Peters zerbrach? Durfte sie ihm die gemeinsame Tochter so einfach entziehen? Und was hat die Trennung für Bettina bedeutet? Hintergründig leben Probleme im Text, mit denen sich Frauen auch heute in ihren Beziehungen herumschlagen.
Wie da verschiedene Temperamente und Bedürfnisse aufeinandertreffen: Gerti Tetzner beobachtet aus Karens Sicht und gibt uns anheim, sich in Peters hineinzuversetzen. Ein promovierter Historiker, der sich zu Hause eine geordnet heile Welt wünscht, sich ausruhen will. Denn in seinem Institut hat er offenbar Stress. Karen aber ist voller Unrast. Dass er sich anpasst, wirft sie ihm vor. Sie will sich mit fertigen Wahrheiten nicht zufrieden geben, öffentlich Bekundetes immer wieder in Zweifel ziehen. Wäre sie eine reale Person, würde man ihr etwas mehr Gelassenheit wünschen. Als literarische Gestalt, die uns aufstören will, ist sie indes in ihrer Unbedingtheit gerade richtig.
Die junge Frau auf dem Cover könnte Karens Tochter sein, die nun unter ganz anderen Verhältnissen darüber nachsinnt, was ihr wirklich wichtig ist. Wie steht sie jetzt zu ihrer Mutter? Was hat sie von ihr mitbekommen? Dank dem Aufbau Verlag, dass er den Text wieder ausgrub und dieses Titelbild wählte, das auf den ersten Blick zeigt: Dieser Roman kann ganz heutig wirken.
Gerti Tetzner: Karen W. Roman. Mit einem Interview von Carsten Gansel. Aufbau Verlag, 398 S., geb., 24 €.