„So war das“, sagen die Mäuse
„Eine Chance ist ein spatzengroßer Vogel“: In ihrem schmalen Buch bringt Yulia Marfutova ein ganzes Zeitalter unter
Irmtraud Gutschke
Ein Text wie ein Musikstück, in wechselndem Rhythmus. Beim Lesen ist man verführt zu lautlosem Sprechen, wie es der Autorin auch beim Scheiben gegangen sein mag. Freude an verschlungenen Gedankenwegen teilt sich mit. Es ist ja nicht falsch, was der Verlag im Klappentext sagt: dass drei Schwestern dem Leben ihrer Mutter Marina nachforschen, bevor diese die Sowjetunion verließ. Aber erst einmal sehen wir die Großmutter, die wieder mal einen Traum hatte „und niemanden zum Teilen“. Nun steht sie im Chalat in der Küche und trinkt ein Glas Wasser. Im Morgenmantel also, doch im Chalat sehe ich sie deutlicher, öffnet sich mir ein riesiger Kulturraum im Osten. Und es ist, als ob die Autorin mir zuzwinkern würde, wenn sie hin und wieder russische, später auch jiddische Wörter in den Text einstreut.
1988 in Moskau geboren, heute in Boston lebend, hat Yulia Marfutova in Berlin Germanistik und Geschichte studiert und in Münster über den Dialogroman des 18. Jahrhunderts promoviert. Mit ihrem Debüt, „Der Himmel vor hundert Jahren“, war sie 2021 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Eine großartige Autorin ist zu entdecken. Preiswürdig auch ihr neues Werk. „Magischer Realismus trifft auf sozialistische Wirklichkeit.“ – Der Werbespruch auf dem Cover passt auf beide Bücher. Um eine Zeit zu ergründen, die sie selbst nicht erlebte, ruft Marfutova „die Mäuse“ zu sich. Die haben schließlich „seit Abertausenden von Jahren“ die Menschen studiert, „von deren Abfällen sie sich ernähren“.
So ernst es gemeint ist, wie sich die junge Marina in die Welt hinaus sehnt und dafür ihre Mutter Nina verlässt, ist auch Verschmitztheit im Spiel. Jedes Nacherzählen wäre banal. „Es beginnt die Zeit, in der die Dinge sich unaufhaltsam verwirren und verknoten und dabei doch so schwebend leicht bleiben wie eine Feder, die man wegpusten könnte, wenn man die Lippen nur ein klein wenig spitzte. Fast scheint es, als könnte man den Ernst auf Abstand halten, einen kleinen Moment wenigstens …“ Komische Verwicklungen, Rätsel und jede Menge Ironie, weil die Beteiligen nicht durchschauen, was ihnen geschieht. In den Büchern der sowjetischen Bibliothek, wo Marina in den achtziger Jahren aushilfsweise arbeitet, sind plötzlich Einladungen mit dem Wort Sochnut versteckt. Und damit ist nicht das russische Wort „trocknen“ gemeint …
So nimmt der Roman noch eine ganz unerwartete, ernste Wendung. Sowieso war ja hinter dem Heiteren – zwei Freundinnen bekleben fiktive Briefe mit amerikanischen Marken, haben „Luftschlösser“ im Kopf, während Großmutter Nina „an den Mond, an Teeblätter, an schwarze Katzen“ glaubt – etwas Verheimlichtes, Düsteres, das erst gegen Schluss ausgesprochen wird. „Ein Wer-Anders in einem Woanders mit grünerem Gras“ wollte Marina sein. Ihre Töchter – „siebzehn, achtzehn und zehn – wissen natürlich, wie die Geschichte enden wird: Asylheim, Ämter, Aufenthaltsstatus.“ Denn: „Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel“.
Sie sehen ihre Mutter, streng und abgehetzt. Sie „hat ein zuckendes Augenlid, zwei Jobs und im Schlafzimmer einen Schuhkarton mit Rechnungen“. Warum und weshalb fragen sie, und die Mäuse enthüllen, was nicht mal die Mutter wusste. Dass sich die Geschichte nicht so entwickelt, wie sie es sich gewünscht hätten, müssten sie in Kauf nehmen. „Vor allem auf die einmal möglichen und nicht begangenen Wege komme es an, auf die dann doch nicht gegangenen, auf die Was-wenn-Dochs und Was-wäre-gewesen-Wenns der Zeitläufte und das Spleißen der Fäden.“ Die Widersprüche aus der Geschichte könnten sie nicht ausradieren. „So war das, sagen sie, die Mäuse.“
Scharfsinnig und voll wilder Phantasie. Verdrängte Vergangenheit wird ausgegraben. Und damit steckt auch vieles aus unserer heutigen verrückten Welt in diesem Buch.
Yulia Marfutova: Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel. Roman. Rowohlt, 141 S., geb., 22 €.