Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Hans-Jürgen Gaudeck: „Momente“

„Lichtflüsse“, die uns tragen

Irmtraud Gutschke

Was für eine Freude es gewesen sein muss, an diesem Buch zu arbeiten: Beim Betrachten und Lesen kann man es spüren. Lektüreerlebnisse wurden zu malerischen Inspirationen – für Hans-Jürgen Gaudeck nicht zum ersten Mal. Mit Eva Strittmatter begann es, dann Fontane, Rilke, Fallada, Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, Joseph von Eichendorff, Theodor Storm, Goethe, Heine, Hölderlin … Und nun Virginia Woolf mit ihrem 1931 erstmals erschienenem Roman „Die Wellen“, in dem drei Männer und drei Frauen in ihre Seelen blicken lassen.

Aber es sind nicht einfach Illustrationen, die uns in diesem Buch erwarten. Auch der Maler öffnet uns ja seine Seele. Textpassagen aus Virginia Woolfs Roman, die ihn besonders beeindruckten, hat er in Bildhafte „übersetzt“. Neben den Abbildungen sind sie abgedruckt, sodass wir im Innehalten vergleichen können. „Blaue Wellen, grüne Wellen wischten mit einem raschen Fächer über den Strand, umkreisten den Spross der Stranddistel und hinterließen flache Lichtpfützen hier und dort auf dem Strand …“ Es ist offensichtlich, wie auch die britische Schriftstellerin eine visuelle Ader hatte. Sie hatte die Gabe, sich ganz dem Augenblick hinzugeben, in jener Andacht zu versinken, welche ja auch der Maler braucht.

Einer Andacht, die heute so selten ist. Stille: Wir können Landschaften in uns aufzunehmen versuchen, aber das kann nur in Demut geschehen. Die Natur ist größer als wir, sie gehorcht uns nicht. Zumal das Meer. „Die Wellen brachen sich und breiteten ihr Wasser flink über den Strand. Eine nach der anderen stauten sie sich auf und stürzten. Die Wellen waren von tiefem Blau getränkt, bis auf ein Muster diamantgesprenkelten Lichtes auf ihrem Rücken, durch das ein Rieseln ging wie das Muskelspiel längs dem Rücken großer Pferde, wenn sie sich bewegen. Die Wellen stürzten; sammelten sich und stürzten wieder, wie das dumpfe Stampfen eines großen Tieres.“ Wellen und Himmel – in Hans-Gaudecks Aquarell spürt man diese Kraft, diese Wucht, die den Menschen unter Wasser zieht, wenn er da hineingerät.

„Wellen, Weite, Wolken, Wald, Blumen, Menschen … Aufleuchtende Momente, Situationen, die sich flüchtend wieder verlieren.“ Dass gerade das Aquarell für ihn „ein ideales Mittel“ sei, um solche Erlebnisse festzuhalten, bekennt der Maler im Vorwort. Wie es „mit schnelle Pinselstrichen mittels Wasser und Farben“ gelingt, „Formen zu gestalten, die sich im Trocknungsprozess zum Teil von meiner künstlerischen Gestaltung lösen“, ja gar „ein Eigenleben“ entwickeln, ist ein Vorgang, der ihn immer wieder fasziniert.

„Ein Eigenleben“, das ist es. Etwas, das wir schauend in uns aufnehmen in ehrfürchtigem Staunen. Hans-Jürgen Gaudeck lässt uns an diesem Erlebnis teilhaben und zieht uns hinein in Momente der Stille. Wobei ihm bei der Lektüre von Virginia Wolf auch immer wieder Erinnerungen kamen an Orte, die sich bei Reisen ihm eingeprägt haben: Danzig, Uljanowsk, Fischerhude, Randazzo am Ätna in Sizilien, die Kykladen-Inseln, Paris, die dänische Insel Mön, Oxford, Krakau, der Garten von Claude Monet, Graal-Müritz …

Fremdes und Heimatliches wie der Herbst im Sacrower Park oder der Havelfluss, wie man ihn erlebt, wenn man von Sacrow nach Kladow wandert, wo der Künstler lebt. Ein „Sommertag“, windig aber schön: „Das Schilf regt sich durch die Windböen in alle Richtungen.“ Ich lese, schaue und denke mit Blick auf die Havel an Virginia Wolf, wie sie vom Leben gebeutelt war, wie sie sich quälte, immer wieder in Depressionen fiel, wie sie arbeitend dagegen ankämpfte.

Ich blicke auf die Havel und denke an den Fluss Ouse, der so friedlich durch die Grafschaften West Sussex und East Sussex fließt. Weil Virgina sehr gut schwimmen konnte, packte sie sich einen großen Stein in den Mantel, bevor sie am 28. März 1941 ins Wasser ging. Der Kriegsausbruch hatte das Paar so sehr belastet, dass sie an gemeinschaftlichen Suizid dachten. Virginias Leiche wurde erst am 18. April gefunden. 

Aber damit soll dieser Text nicht enden. Ich schlage das Buch noch einmal an der Stelle auf, in die ich mir als Lesezeichen eine Karte mit Gaudecks Aquarell „Herbstleuchten“ gelegt habe, das mir Erinnerungen an einen wunderbaren Waldspaziergang weckt. Auf Seite 38 sehe ich etwas geradezu Märchenhaftes, was dem Künstler auf seiner Schiffsreise zu den Lofoten widerfuhr. Eine düstere Wolkenformation hat sich über dem Wasser gebildet. Doch plötzlich bricht das Sonnenlicht hervor, und man kann zusehen, wie sie immer kleiner wird. „Lichtflüsse“ hat der Maler dieses Bild genannt, in dem so viel Hoffnung ist.

Hans-Jürgen Gaudeck: Momente. Ein malerischer Dialog aus „Die Wellen“ mit Virginia Woolf. Klaus Becker Verlag, 88 S., geb., 29 €.

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