Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Weltordnung im Umbruch

Friedenspolitik in turbulenten Zeiten

„Weltordnung im Umbruch“ von Peter Wahl, Erhard Crome, Frank Deppe und Michael Brie

Irmtraud Gutschke

Glänzend! Wer verstehen will, was in der Welt vor sich geht, sollte dieses Buch zu Hause haben. Auf gerade mal 160 Seiten (plus neun Seiten Anmerkungen) wird eine beeindruckende, faktengestützte Analyse vorgelegt, sachlich und geradezu spannend. „Viele Köche verderben den Brei“? Das landläufige Sprichwort wird widerlegt. Peter Wahl, Erhard Crome, Frank Deppe und Michael Brie haben nicht lediglich ihre eigenen Kapitel beigetragen, zumindest ist das nicht mehr spürbar. Es ist tatsächlich ein „kollektiver Text“, wie es im Vorwort heißt. „In mehreren Videokonferenzen und in einer eintägigen physischen Redaktionssitzung wurden Entwürfe besprochen und dann wieder per Mail kommentiert.“

Durchgearbeitet alles immer wieder, im Inhaltlichen wie im Sprachlichen, was ja zusammenhängt. Wieviel Arbeit wohl darin steckt, bis eine solche präzise, plausible Einschätzung zustande kam! Diese wurde ja umso schwieriger, weil sich vor unseren Augen  Umbrüche vollziehen, die in ihrer Tendenz zwar durchschaubar sind, aber im Einzelnen auch Unvorhergesehenes bergen. Nehmen wir allein die Außenpolitik Donald Trumps, dessen „persönlichkeitsbedingter Stil … zwischen Megalomanie, Vernünftigem, Polit-Kitsch, Vulgarität, Facts und Fakes, Realismus und steilen Thesen schwankt. Widersprüchlichkeit in allen Ecken und Enden!“ Aber bei all dem werden die USA eine „Supermacht“ bleiben, wie die Autoren meinen und Einschätzungen widersprechen, bei denen eher der Wunsch Vater des Gedankens war.

„Aufgeklärter Realismus“ als Methode: Die Vision einer friedlichen Welt vor Augen, ging es den Autoren erst einmal um nüchterne Analyse des Ist-Zustands, welche ja die Grundlage ist, um Strategie und Taktik linker Politik zu bestimmen. „Umbrüche im internationalen System verstehen“ – schon dieses erste Kapitel ist eminent wichtig, weil wir uns eben noch lange nicht in jener „Weltgesellschaft“ befinden, die wir uns wünschen würden. Auch wenn es einem nicht gefällt, „aus der Verfügung über Machtressourcen ergibt sich eine Hierarchie im internationalen System“, die derzeit einer Auseinandersetzung unterliegt. Für einen „internationalistischen Standpunkt“, um „Krieg zu vermeiden sowie internationale Zusammenarbeit auf staatlicher und nicht-staatlicher Ebene zu fördern“, ergeben sich dadurch Herausforderungen.

Immer wieder erhellend, wie diesbezüglich historische, ökonomische, geopolitische Zusammenhänge aufgerufen werden. Die weltgeschichtlich neue Rolle des globalen Südens, Chinas Aufstieg zur Supermacht, der „geopolitische Niedergang des Westens“ und „Russlands Renaissance als Großmacht“ zeigen sich tatsächlich schon im jeweiligen Bruttosozialprodukt, besonders deutlich, wenn dieses nach Kaufkraftparität bewertet wird. Machtverschiebungen, die aber auch Grenzen haben und Gefahren bergen. Da wird ausdrücklich vor jenem nationalen Hochmut gewarnt, der sich im Westen traditionell  gegen alles Östliche richtet und derzeit verstärkt mit Militarisierung einhergeht. „Weltmachtstatus“ für Deutschland, das inzwischen „Schlusslicht bei Wachstum“ ist? Lachhaft, aber im Ernst: Der „kriegstreibende Faktor des Kapitalismus“ ist nicht zu unterschätzen.

„Deutschland knüpft mit seiner ‚Zeitenwende‘ an die verheerenden Traditionen seiner Geschichte an. Die neue Bundesregierung treibt „die Hochrüstung voran, um so ihren Führungsanspruch auch militärisch zu untermauern“. Bei so manchen Mitgliedsstaaten der EU dürfte das auf Widerstand stoßen. Und im Inneren des Landes werden mit „der Steigerung der Rüstungsausgaben, stagnierenden Reallöhnen, anhaltender Inflation und Mietsteigerungen, Beschäftigungsabbau in der Automobilindustrie und angesichts von gewaltigen Sparprogrammen – u.a. im Bereich der Hochschulen – Kritik und Widerstand an Kraft gewinnen: einerseits bei den Gewerkschaften, andererseits bei den Parteien der politischen Linken“. Wobei zu befürchten ist, dass „die wachsende Unzufriedenheit in der Wahlbevölkerung“ erst einmal „rechtsradikalen und rechtspopulistisch-nationalistischen“ Kräften zugutekommt. Umso wichtiger, dass Linke sich auf ihre Kraft besinnen.

Dass dieser Band kein „Parteiprogramm“ sein könne, heißt es im Vorwort. Da bietet gerade das letzte Kapitel „Kontroversen in der Friedensbewegung“ (welche indes nicht nur ein linkes Projekt ist) reichlich Diskussionsstoff: Was heißt Universalität der Menschenrechte? Gibt es einen „linken Bellizismus“? Welche Haltung kann man zu nationaler Souveränität, Selbstbestimmungsrecht und Separatismus haben? Schwierige Fragen, welche die Autoren konkret zu fassen versuchen, wobei sie zugestehen, dass UN-Charta und Völkerrecht, die ja ein allgemeiner Maßstab sein sollen, oft nur so lange hochgehalten werden, „wie es in die eigenen Interessen“ der jeweiligen Staaten passt.

Etwas, das nicht sein soll, aber so ist – wie soll man darüber sprechen? Nicht nur dem weitverbreiteten, aus Ohnmacht entstehenden Grollen verweigern sich die Autoren, sondern auch weitgehend dem Ton gerechter Empörung, mit der sich Menschen Luft machen, ohne an den Dingen etwas zu ändern. „Aufgeklärter Realismus“ – wobei einem klar sein muss, dass wir Linken gerade auch aus Idealen Kraft schöpfen. Andererseits ist zu beobachten, wie mentaler Militarisierung sich das Streben zum Guten zunutze macht. Umso mehr braucht es „Wissen und rationale Erkenntnis“ als „Vorbedingung für mündige moralische Entscheidungen“.

Für ein Friedensbewegung auf der Höhe der Zeit bieten die Autoren viele Argumente und sind sich auch der „Macht der Gefühle“ bewusst, welcher „sich Friedenspolitik viel stärker zuwenden muss“, um „nicht nur die Köpfe, sondern auch die Herzen der Menschen“ zu erreichen.

Peter Wahl / Erhard Crome / Frank Deppe/ Michael Brie: Weltordnung im Umbruch. Krieg und Frieden in einer multipolaren Welt. Verlag PapyRossa, 171 S., br., 14,90 €.

Buchvorstellung und Diskussion mit Erhard Crome am 26. November, 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin

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