Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Oliver Schlick: Der verratene Ganove

Wunderbar filmreif

Irmtraud Gutschke

Warum bloß ist noch keiner auf die Idee gekommen, dass die Krimis von Oliver Schlick für eine Fernsehserie taugen? Freilich gibt es Zuschauer, die auf Hard-Boiled-Stories stehen, denen es nicht grausam genug zugehen kann. Und die sich selber irgendwie stark fühlen, wenn Polizistinnen und Polizisten ständig mit ihren Pistolen fuchteln. Andererseits beweist der Erfolg von „Mord mit Aussicht“, wie gut sich Spannung mit Humor verträgt. Was diesen Mix betrifft, ist Oliver Schlick ein Meister. Aber das sind doch Kinderbücher, könnte jemand einwenden. Deren Verfilmung passt nicht ins Abendprogramm. Wetten doch?

Als „Rory Shy, der schüchterne Detektiv“ 2020 bei Ueberreuter erschien, wartete ich schon auf jeden folgenden Band. Dies ist nun schon der siebente. Und die Idee des Autors hat sich keineswegs abgenutzt. Im Gegenteil. Die Romane um Sherlock Holmes wurden ja auch deshalb so erfolgreich, weil Arthur Conan Doyle seinen zwei wichtigsten Charakteren treu blieb: Sherlock Holmes und Dr. Watson können unterschiedlicher nicht sein und bilden gerade deshalb ein perfektes Duo. So wie der schüchterne Rory Shy unbedingt dieses aufgeweckte Mädchen braucht, das sich Matilda Bond nennt. Im ersten Roman war sie zwölf, inzwischen ist sie dreizehn. Ohne sie käme keine Zeugenbefragung und keine Verhaftung zustande. Denn Rory Shy, introvertiert und überaus klug, ein Großtalent der Intuition, hat ständig mit seinen Hemmungen zu kämpfen. Menschen wie er werden ja oft als Kinder schon verlacht. Hier kommt noch hinzu, dass der Detektiv in vielerlei Hinsicht aus der Zeit gefallen scheint. Wie ein feiner Herr aus dem 19. Jahrhundert wirkt er bisweilen, der sich auf „diskrete und behutsame Ermittlungen“ versteht, und hat es doch mit den grobschlächtigen Schurkereien von heute zu tun.

Ja, es müssen ja nicht mal Ganoven sein. Eine Zumutung ist schon das übliche Fernsehprogramm, das hier herrlich spöttisch betrachtet wird. Noch schlimmer wird’s im Karneval. Wohin fliehen vor dem „Humbatäterä“? Da kommt es Rory Shy sehr zupass, dass im beschaulichen Dörfchen Auental ein Mann vermisst wird, denn dort gibt es zwar, wie sich herausstellt, eine Kräuterhexe, aber kein närrisches Treiben wie in der Stadt. Dazu gibt es einfach zu wenig Leute.

Das „Alaaf“ und „Helau“ ist auch Matilda verhasst, und man darf vermuten, dass es dem Autor ebenso geht. In aller Offenheit wird hier ein Kräfteverhältnis benannt: Was man kultiviert nennt, wird untergebuttert. Die Lauten dominieren die Leisen, und das nicht nur zur Karnevalszeit. Um in dieser Gesellschaft voranzukommen, muss man eher „verwegen“ statt „verlegen“ sein. Im „Spirituellen Zentrum“ in Auental ist dazu ein bizarres „Schüchternheits-Seminar“ zu erleben. Was das mit jenem vermissten Mann zu tun hat, der sich als geprellter Dieb herausstellt, soll hier nicht verraten werden.

Auch wenn es (noch) keine Verfilmung gibt, der Autor hatte auf jeden Fall Rollenbilder vor Augen und hat sich beim Schreiben wohl selbst amüsiert. Auental, wo ein „Wolf“ gesichtet wurde, der eigentlich ein Pudel war, ließ mich tatsächlich an Hengasch aus „Mord mit Aussicht“ denken: wie der dicke Wachtmeister Julius Schnitzel sich langweilt und nur auflebt, wenn er von seiner Rosi Kartoffelsalat in Tupperdosen bekommt, wie Brunhild Grimmig, die Wirtin der Dorfkneipe, ihrem Namen alle Ehre macht, bis sie sich in „Doktor Herkenrath“ verliebt. So heißt Matildas Cockerspaniel, den sie als „Spürhund“ bezeichnet. Wie er vor allem und jedem Angst hat, kann man beim Lesen tatsächlich wie einen Film vor sich sehen. Man lacht und wird schnelle wieder ernst. Wie gesagt, auch ängstliche Menschen verdienen Achtung und Liebe.

Oliver Schlick, so kann man erfahren, ist seit Jahren in der stationären Jugendhilfe und der Flüchtlingsarbeit tätig. Auf seiner Webseite sieht man ihn in gestreiftem Shirt und mit orangefarbener Brille vor einem mit buntem Graffiti bemalten Haus. Auch erfährt man, dass er 2023 den renommierten Glauser-Preis in der Kategorie „Kinderkrimi“ gewann. Ja, auch dieser Band der Rory-Shy-Reihe ist für Kinder ab zehn gedacht. Die dürfen Matilda um ihre Gewitztheit beneiden, der Haushälterin Frau Zeigler jedes Mal eine Ausrede aufzutischen, um mit Rory Shy auf Verbrecherjagd zu gehen. Und das geht sowieso nicht immer, sondern nur, wenn ihre Eltern wieder einmal als Tierfilmer in der Welt unterwegs sind.

Witzig: Die ganze Zeit haben Mama und Papa keine Ahnung von den Abenteuern ihrer Tochter. Ob sich das auf ewig geheim halten lässt? Oder kommt es im achten Band der Reihe, der für das Frühjahr 2026 angekündigt ist, zum großen Knall? Kinder werden sich bei der Lektüre köstlich amüsieren. Erwachsene auch. Und hinter all der gekonnten Situationskomik manchen Hintersinn zu entdecken, wird für sie ein zusätzlicher Genuss sein.

Oliver Schlick: Der verratene Ganove. Band 7 der Reihe „Rory Shy. Der schüchterne Detektiv“. Ueberreuter, 307 S., geb., 16 €.

Weiter Beitrag

Zurück Beitrag

Antworten

 

© 2025 Literatursalon

Login