„Nichts ist nur schwarz oder weiß“
„Eden“: Jan Costin Wagner über Gewalt und die Sehnsucht nach Erlösung
Irmtraud Gutschke
Bei Jan Costin Wagner darf man auf Ungewöhnliches hoffen und wird auch diesmal nicht enttäuscht. Ein Krimiautor, der zugleich Komponist ist. Parallel zum Roman sind die Songwriter-Alben „violet tree“ und „Unbelegte Reise“ entstanden. Tatsächlich scheint der Text von Klängen durchwebt. Zärtlich und sehnsuchtsvoll und plötzlich ein Donnerschlag, Stille. Gleichsam sieht man den Autor am Piano, hört leisen Gesang …
Das Buch geht unter die Haut, weil es auch eigenes Fühlen betrifft. Dabei meinte man, aus dem Klappentext schon alles zu wissen: Bei einem Sprengstoffanschlag auf eine Konzerthalle in Stuttgart hat „ein einst glückliches Ehepaar“ das einzige Kind verloren und muss „mitansehen, wie ihr Unglück politisch instrumentalisiert wird – von rechtsextremen Politikern in Talkshows, aber auch von aggressiven Verschwörungstheoretikern im Internet“. Der Autor greift also tief hinein in den Sumpf von Befürchtungen, die einem täglich um die Ohren fliegen. Das Selbstmordattentat nach einem Konzert von Ariana Grande in der Manchester Arena am 22. Mai 2017 mit 23 Toten und 116 Verletzten könnte Auslöser für ihn gewesen sein.
Krimis leben ja gemeinhin von einem Verbrechen und dessen Aufklärung. Täter werden gejagt, weggesperrt, gar selbst getötet. Gewalt wird durch Gewalt gestoppt, die Ordnung vermeintlich wieder hergestellt. Doch schon in Jan Costin Wagners sechs Finnland-Krimis war es anders. Der melancholische Kommissar Kimmo Joentaa will verstehen, statt urteilen. Die Trauer um seine Frau hat ihn umso feinfühliger gemacht. So geht es auch Markus Stenger im neuen Roman mit seiner 12-jährigen Tochter. Er hatte Sofie Karten zum Konzert ihrer Lieblingssängerin geschenkt und saß im Café, als sie getötet wurde.
„Mein Schreiben lebt davon, eine Sprache zu finden für die Innenschau dieser Menschen, die sich in einer extremen Situation befinden und auf Erlösung hoffen.“ Das erklärte Wagner zu seinen drei verstörenden Romanen um den Kriminalisten Ben Neven. In Fällen von Kindesmissbrauch ermittelnd, sah er sich als einer „von den Guten“ und erkannte mit Schrecken, dass etwas von den Tätern auch in ihm selber war.
Gratwanderungen: „Ich suche immer die Felder, die mir ermöglichen, dahin zu gehen, wo ich noch nie gewesen bin.“ Dabei hat man bei der Lektüre von „Eden“ das Gefühl, der Autor würde jenes Leid, das den Stengers widerfuhr, selber kennen. Die vergeblichen Versuche, es zu verdrängen, die Flucht in Routinen, Sprachlosigkeit, Grübeln, Entfremdung.
Am Anfang ist alles gut. Tobias, Sofies Schulfreund aus der 7. Klasse, ist bei ihr zu Besuch und teilt seine Gedanken zu einem Referat über Donald Duck. „Die Leute sind nicht nur so oder so, sie haben mehrere Seiten, und deshalb sind sie für uns … also für uns Leser, interessant. Und … lebensnah. Nichts ist nur schwarz oder weiß.“ Super, sagt Herr Stenger. Sofie nickt. Rechtzeitig will sie vom Konzert zurück sein, um Tobias zuzuhören. Doch ihr Platz bleibt leer. Die Lehrerin wird nach draußen gerufen. Da begreift Tobias, was passiert war.
Wie in vorigen Romanen wechselt der Autor immer wieder die Perspektive, respektiert die unterschiedlichen Sichten der Gestalten. Markus Stenger steckt in seinen Grübeleien fest, seine Frau Kerstin braucht medizinische Betreuung. Hätte ihr Mann das Grauen nicht abwenden können? Ist es richtig, ihrer Mutter Margot im Pflegeheim Sofies Tod zu verschweigen? Markus‘ Schwester Isabel muss die Trennung von ihrem Mann verwinden. Ihre Tochter Lotte lebt nach dem Konzert mit einer Wunde im Rücken.
Tobias‘ Mutter streitet sich mit ihren Geschwistern um das Erbe. Sein Vater verbindet mit dem Attentat nur eine Forderung: Außengrenzen, „die den Namen verdienen“. Und auf dem Bildschirm soll „ein zaghaft lächelnder Mann“ der „Böse in dieser Geschichte“ sein. Auf Tobias wirkt das falsch. Und er spürt Sofie an seiner Seite.
Vielleicht ist sie unterschwellig sogar die Hauptperson im Buch: dieses Mädchen, das durch des Vaters Träume tanzt, ihm etwas wichtiges sagen will, was er noch nicht versteht. Ein Textabschnitt gilt auch dem Attentäter. Ayoub Issa, Anfang 20, verspricht seiner Mutter am Telefon, dass sie stolz auf ihn sein würde. Sie und Ayoubs älteren Bruder wird Markus aufspüren. Fäuste werden fliegen, doch das wird keine Lösung sein.
So viele Bücher und Filme gibt es, wo jemand nach dem Mord an einem geliebten Menschen auf Rache sinnt. Jan Costin Wagner nimmt dieses Bedürfnis ernst, aber er fühlt so nicht. Dass wir „einer Ideologie der Abgrenzung niemals mit einer Ideologie der Abgrenzung begegnen werden können“ – lässt er Markus Stenger in einer Talkshow sagen, die Hass auf Migranten anfeuern soll. Denn Hass ist seiner Tochter fremd gewesen. „Sie konnte ganz toll Leuten klarmachen, dass sie sich vertragen sollen“, weiß Tobias.
„Eden“: das verlorene Paradies vor „dem Eintritt des Menschen in das von Leid und Tod gezeichnete Weltgeschehen“, der ewige Sehnsuchtsort. Zugleich kommt der Romantitel vom Album „Spirit of Eden“ der britischen Band Talk Talk: „Die Musik schält sich aus der Stille heraus, um wieder mit ihr zu verschmelzen. Durch das Fenster scheint die Abendsonne …“
Jan Costin Wagner: Eden. Roman. Galiani Berlin, 313 S., geb., 24 €.