Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Die schöne Kraft des Glockenseils

„Das Schöne ist dir widerfahren“

Hans-Dieter Schütt spricht mit Friedrich Schorlemmer über Gott und die Welt

Von Irmtraud Gutschke

Zwei Männer stelle ich mir vor, die in angeregter Unterhaltung durch eine weite Landschaft gehen, auch immer mal stehenbleiben, wenn ein Gedanke die ganze Aufmerksamkeit will. Dabei werden Zitate eingeflochten, Gedichte. Auf friedlichste Weise wetteifern sie um Höhenflug und Ausdruckskraft. Hans-Dieter Schütt erscheint als der eher Fragende und lenkt dabei doch das Geschehen … Die Illusion eines Männer-Spaziergangs entspringt seiner literarischen Kunst.

„Essay zu zweit“ nennt er jene ihm eigene Kunstform des Gesprächs, auf Glanz poliert in so vielen Bänden, dass Wikipedia davon nur eine Auswahl bringt. Mit Friedrich Schorlemmer gab es sogar schon zwei solcher Bücher: „Die Welt hinter den Fragen“ (2007) und „Zorn und Zuwendung“ (2011). Das jetzt vorliegende, „Die schöne Kraft des Glockenseils“, nennt Schütt „collagiert in der Art eines Films. Wesentlicher Motor eines Films: Schnitt.“ Ergebnisse vieler Gespräche, bisher Unveröffentlichtes, aber auch Veröffentlichtes, „ausgereifte Passage und Bruchstück, ausführliche Sequenz und Notiz, gründliche Einlassung und schnelle Eingebung“ sind komponiert zu einem Ganzen, das in schneller Abfolge auf Grundsätzliches zielt.

Ein Gespräch über Gott und die Welt also. Friedrich Schorlemmer, evangelischer Theologe und Bürgerrechtler, ist auch ein Dichter und Denker, ein Wortmächtiger, der beflügeln kann. Das Buch beginnt mit der Bedeutung der Jahreszeiten und reicht bis zur Endlichkeit des Lebens, zu der uns dieser Pfarrer keine Auferstehung im Paradies verspricht. Um Zuversicht geht es und um Abschiednehmen, um Trauer und überschäumendes Glück. Um tatkräftiges Widerstehen aber auch um „Schweigen als eine Form von Festigkeit“, um menschliche Zerrissenheit und Möglichkeiten der Heilung, um Furcht und Freude, Staunen und Ermüdung, Optimismus und Pessimismus, um Ich-Werdung und Gemeinschaft, um Religion und Kirche, um den Gekreuzigten und den heutigen Kapitalismus. Was sind Lichtpunkte im Alltag? Wie kann ich leben im Bewusstsein von Vergänglichkeit? Hoch hinauf schwingt sich das Gespräch bis zum Staunen, zur Entrückung. Was tun, damit einen „das Berechnete und Berechnende“ nicht lähmt? „An jedem All-Tag lässt sich jener untilgbare Rest an Unverhofftem entdecken, der sich den Zwängen entzieht. Wer keinen Sinn hat für die Schönheiten der Welt, der hat auch keinen Sinn für sonst etwas, schon gar nicht für den Frieden auf Erden.“

„Schöne Worte“, wendet Hans-Dieter Schütt ein, auf den Seiten 60, 61 sogar drei Mal, als Friedrich Schorlemmer von „Nachhaltigkeit“ spricht, die auf ein „neues Ethos“ zielt, frei von Gier und betoniertem Egoismus. „Eine Utopie wird nicht dadurch entwertet, dass wir nicht vor ihr bestehen“, bekommt er zu Antwort. „Mögen wir uns also an bloßen Worten aufrichten und reiben und stoßen – und unter ihnen bleiben im doppelten Sinn: Die Worte sind unser Himmel.“

Mitreißende Sprache, energetisch aufgeladen, immer wieder wohl auch gegen eigene Müdigkeit gesetzt. Der da Trost spendet, muss sich auch selber trösten – durch das Gebet, das Friedrich Schorlemmer als eine höchst persönliche Äußerung sieht. „Eingebettet am besten in große Musik, die uns im Innersten erschüttert, wie ein warmer Schauer.“ Da hätte man sich fast eine beiliegende CD gewünscht, auf der die von ihm in diesem Sinne benannten Kompositionen vereint wären. Zum Beispiel „das 5. Klavierkonzert von Beethoven in der Einspielung von Alfred Brendel – du hörst das und kannst gleichsam zusehen, wie du dich wieder aufrichtest.“ Öffne dich dem Schauen, zum Beispiel auf das „tief samtene Himmelsrot“, wenn die Sonne untergeht. „Auch wenn du das alles morgen schon wieder verlieren solltest – was bleibt inmitten aller Bitternis und Niedergeschlagenheit: Das Schöne ist dir widerfahren! Gewissermaßen ‚Ein für allemal!’“

Lesend taucht man ein in einen Überschwang und mag das Buch hernach in greifbarer Nähe behalten. Vielleicht, um fortan ein Spiel mit dem Zufall zu treiben. Schlag es auf und bedenke, was es dir in diesem Moment wohl zu sagen hat.

Friedrich Schorlemmer: Die schöne Kraft des Glockenseils. Gespräche mit Hans-Dieter Schütt. Radius Verlag, 183 S., geb., 16 €.

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