Wildes Leben, wo einst ein Todesstreifen war
Irmtraud Gutschke
Wolf Zöllner wohnt nicht weit vom Mauerpark. „Meist macht er sich bei einsetzender Dämmerung, die das beste Licht des Tages bietet, mit seiner kleinen, unauffällig wirkenden Fuji-Kamera auf den Weg“, schreibt Torsten Schulz. „Es ist nicht übertrieben, ihn einen Chronisten dieses Ortes zu nennen.“ Der Autor dieser Zeilen ist Schriftsteller, Professor für Dramaturgie an der Filmuniversität „Konrad Wolf“. Gerdchen wäre stolz auf ihn gewesen. Sein Freund war Hilfsarbeiter im Kohlenhandel, griff öfters zur Flasche. Er brach sich beide Beine, als er vom Balkon sprang, um seinem Neffen Lolli beizustehen, der auf der Straße von irgendwelchen Jungs bedrängt wurde. In der Trauerrede – er starb viel zu früh – wurden Gerdchens Vorstellungen vom Mauerpark nicht erwähnt. Aber Torsten Schulz hatte sie noch gut in Erinnerung. Irgendwann würde man „den ganzen Mist“ wegräumen: „Die Steine der Mauer und der Wachtürme, den Stacheldraht, die Fahrzeugsperren und was da sonst noch alles ist. Alles. Alles weg!“
Und dann würde man aus diesem Gelände „einen Park machen. Mit Blumen und Pflanzen und natürlich einem Fußballplatz und einer Bühne für Musikbands und natürlich auch mit einer schönen Kneipe, in die aber nicht jeder reindarf. Meine Alten zum Beispiel, die dürfen da nicht rein. Die können saufen, wo sie immer gesoffen haben. Das ist mein Plan.“ Bei Gerdchens „Alten“ hätte Torsten Schulz auch nicht aufwachsen mögen. Er konnte sich vorstellen, warum der Schulfreund bald 18 werden und „frei“ sein wollte. „Nicht selten war das Wort frei, sobald er es aussprach auch Startschuss für seine Mauergelände-Vorstellungen.“ Nicht ahnen konnte er, wie sie sich verwirklichen sollten. Wie wunderbar: Wo Ost und West voneinander getrennt waren ist jetzt ein Ort der Begegnungen von Menschen aus aller Welt entstanden. Die uns ein freies, friedliches Miteinander vor Augen führen in überbordender Lebenslust.
Ob Gerdchen vielleicht insgeheim dabei half, die Bilder für diesen Band auszusuchen? Ich überlege, welche mir am besten gefallen. Zwei auf einer Wiese, der junge Mann spielt Gitarre. Ein Mann spielt Cello, und eine Frau sitzt auf einer Decke. Einer jongliert unter dem Abendrot. Schau dir die Fotos an und erkenne dich selbst: Ich merke, dass mir das Leise besser gefällt als das Laute. Stille kann man im Mauerpark finden, aber wer dorthin geht, sucht doch eher das wilde Leben. Karaoke, Feuertanz oder wenigstens den berühmten Flohmarkt. Graffiti, ausgelassener Tanz, zusammen trommeln, ein Hauch von Gegenkultur. Was für ein tolles Foto: Eine Frau in sommerlichem Outfit mit Gitarre sieht sich Polizisten mit Schutzmaske gegenüber und erklärt ihnen wahrscheinlich, warum sie keine trägt.
Beim Blättern in diesem großartigen Band denke ich darüber nach, dass ich selbst mal dort ganz in der Nähe gewohnt habe. In einer Hinterhauswohnung. Wenn ich aus dem Vorderhaus auf die Straße trat, konnte ich die Mauer sehen . Die war eben da und würde nicht weggehen. Was ich damals dachte, will ich heute nicht leugnen.
Wolf Zöllner und Torsten Schulz: Mauerpark. Nicolai Verlag, 120 S., geb., 28 €.