„Noah … nimm mich auf in Deine Mannschaft“
Aus der „Sprache der Götter“: Armenische Gedichte ins Deutsche gebracht
Irmtraud Gutschke
Der britische Romantiker George Byron hätte die Gedichte dieses Bandes im Original verstanden. Denn er hat tatsächlich bei seinen Reisen nach Griechenland und Venedig auf der Insel San Lazzaro Station gemacht, um bei armenischen Mönchen die Sprache und die über 1400 Jahre alte Schrift zu erlernen. „Ich habe die Sprache der Armenier gelernt, um zu verstehen, in welcher Sprache die Götter sprechen. Denn die armenische Sprache ist die Sprache der Götter und Armenien ist die Heimat der Götter und die Götter stammen aus Ararat-Tal.“
Wer einmal dort gewesen ist wie ich, die großartige Landschaft bewunderte und in einem örtlichen Weingut wahrhaft göttlich speiste, kann das nur unterschreiben, Und kennt deshalb dieses Schrifttum noch lange nicht, dem in Jerewan ein großes beeindruckendes Museum gewidmet ist: der „Matenadaran“. Im Jahre 405 von dem Gelehrten Mesrop Maschtotz geschaffen, hat das armenische Alphabet die Jahrhunderte überdauert – zusammen mit der 1700 Jahre alten Geschichte der armenischen Apostolischen Kirche, die bis heute die Identität dieses Volkes bestimmt.
Hierzulande ist es ja üblich geworden, unter dem Begriff „Kaukasus“ mehrere Länder zusammenzufassen, die sich selbst als sehr unterschiedlich erleben. Besonders deutlich ist diese Differenz zwischen Armenien und Aserbaidschan, die durch eine geschlossene Grenze voneinander geschieden sind, nachdem die kriegerischen Auseinandersetzungen um die Enklave Bergkarabach zugunsten Aserbaidschans entschieden waren. Und auch mit Georgien gibt es nicht etwa eine Konföderation, obwohl man sich doch in enger Nachbarschaft befindet. Jeweils nur knapp über drei Millionen Einwohner leben mit ihrem jeweils eigenen Stolz und Kummer, weil beide Staaten einst viel größer gewesen sind.
Aber hier soll es um die Literatur gehen, in der es ja auch nicht gerecht zugehen kann. Dass Georgien 2018 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse war, hatte eine Vielzahl von Übersetzungen zur Folge. Ein so großer literarischer Auftritt war Armenien nicht vergönnt. Umso verdienstvoller ist vorliegender Band aus dem Heidelberger Verlag Das Wunderhorn, gemeinsam herausgegeben von Armenuhi Drost-Abgarjan, von dem auch das umfangreiche, aufschlussreiche Nachwort stammt, und Hans Thill.
Das Besondere: Jeweils sechs Dichterinnen und Dichter haben sich in der Übersetzerwerkstatt Edenkoben getroffen, um Verbindungen auszuloten und gemeinsam an Texten zu arbeiten. Zu den Originalen, die auch im Band mit abgedruckt sind, gibt es Nachdichtungen, nicht selten sogar mehrere. Armenuhi Drost-Abgarjan hat Interlinearübersetzungen angefertigt, zu denen die deutschen Dichterinnen und Dichter ihre jeweils eigene poetische Sprachen finden mussten.
Überaus anregend ist es, beim Lesen die verschiedenen Nachdichtungen zu vergleichen und sie dabei auch zum eigenen Weltgefühl in Beziehung zu setzen. Ähnlichkeiten und Unterschiede in den Erfahrungswelten gilt es zu erfühlen. Denn es handelt sich hier ja um eine Sammlung armenischer Gegenwartsliteratur.
Wir leben auf einer Erde, wünschen uns alle Frieden und Glück. Wir wollen lieben und geliebt werden, trauern um die Toten. Aber für die Armenier ist die Erfahrung Krieg viel näher. Ein Trauma ist der Massenmord an den Armeniern im Osmanischen Reich. Bis heute nährt sich daraus ein Gefühl des Bedrohtseins, verstärkt durch die Flucht und Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus Bergkarabach.
„Steine des Krieges“ hat Gohar Galstyan, geboren 1964 in Jerewan, eines ihrer Gedichte genannt. Vom „Auswandern“ ist bei Arpi Voskanyan, geboren 1978 in Stepanawan, die Rede. „Habt ihr die verbrannte Erde gerochen?“, so beginnt das Gedicht „Schuschi“ von Vahé Arsen, 1978 geboren und derzeit Dozent in Jerewan.
Der aus Berg-Karabach stammende Artem Harutyunjan (Jahrgang 1945), konnte aus gesundheitlichen Gründen bei dem Treffen nicht dabei sein. Doch sein über elf Seiten langer „Brief an Noah“ hätte allein schon eine Publikation gerechtfertigt. Noah, der bekanntlich mit seiner Arche am biblischen Berg Ararat anlegte, wird um Rettung angerufen. „Noah … nimm mich auf in Deine Mannschaft.“ Welchen Widerhall erlebt man da aus diesem nicht erst heute entstandenen Gedicht, das ihm sogar einen Vorschlag zum Literaturnobelpreis eingebracht hat: Die Drohung einer nahenden Sintflut und die Hoffnung auf Rettung, durch welches Wunder auch immer.
Armenuhi Drost-Abgarjan/ Hans Thill (Hg.): Der doppelte Sisyphus. Gedichte aus Armenien. Verlag Das Wundrhorn, 185 S., geb., 26 €.