„Sehnsüchte und Freuden, aber auch Scheitern, Verletzlichkeit
Kat Menschiks lebenslange Liebe zu Hans Christian Andersen
Irmtraud Gutschke
Wie mögen die Eltern gestaunt haben, als die Zehnjährige ihnen Andersens Märchen „Der Tannenbaum“ vorspielte. Eine Handpuppenbühne mit aufziehbarem Vorhang hatte sie gebaut, Pappkulissen gemalt, Puppen gebastelt. Und die kleinere Schwester durfte mitmachen.
Kat Menschik, 1968 in der DDR geboren, ist als Illustratorin zu einer Berühmtheit geworden. Dass sie als Kind alle Märchen las, die sie in die Hände bekam, sagt sie nun in unserem Gespräch, auch dass ihr allererstes Buch 1985 Hans Christian Andersen galt: „Das Feuerzeug“. Sie schrieb die Geschichte mit der Schreibfeder ab und illustrierte sie mit Aquarellbildern. „Dann nähte ich die Seiten zusammen, wie ich es bei einem alten Buchbinder abgeschaut hatte, und bastelte einen Pappumschlag, in den ich den Buchblock einklebte. Im Grunde so, wie jedes Buch hergestellt wird. Auflage ein Exemplar.“
Was für eine turbulente Geschichte über einen gewitzten Soldaten, eine listige Hexe, drei Hunde mit riesigen Augen und eine schöne Prinzessin: Und sie geht sogar gut aus. In gestochen schöner Handschrift ist der Text jetzt im neuen Band aus ihrer Reihe „Lieblingsbücher“ von Kat Menschik zu lesen, der aus Anlass des Andersen-Jubiläums bei Galiani Berlin erschien. Auch mit den Illustrationen von damals, die auf den ersten Blick so gar nicht ihren heutigen gleichen, in denen die Künstlerin aber ihren „Strich“, ihre „künstlerische DNA“, wiedererkennt.
Farbkräftig, expressiv sind ihre neuen Bilder zu Andersens Märchen, jedes ein Kunstwerk für sich. „Mittlerweile habe ich eine knapp dreißigjährige tägliche Zeichenerfahrung. Im Lauf der Jahre macht man immer mal kleine Neuerfindungen, die den Zeichenstil im besten Fall verfeinern. Ich benutze eine Technik, die ich mir vor vielen Jahren angeeignet habe – mit Feder und Tusche auf Papier zu zeichnen, ganz analog, um dieses Papier später einzuscannen und am Computer zu bearbeiten. Alles, was man am Ende von mir in gedruckter Form sieht, existiert eigentlich nur digital.“
Was sie an Andersen mag? „An seinen Geschichten beeindruckt mich so sehr, wie behutsam und wunderschön er über die Sehnsüchte, Ängste und Freuden der Menschen schreibt, aber auch über ihr Scheitern, teilweise ihre Verlorenheit und Verletzlichkeit.“ 156 Märchen hat er verfasst, die in 125 Sprachen übersetzt wurden, aber auch Gedichte, Romane, Dramen, Reiseberichte. Ein riesiges Lebenswerk, beileibe nicht nur für Kinder. Gerade Erwachsene werden sie in ihrer Tiefe zu schätzen wissen, die verborgene Lebensweisheit darin erkennen und sich dabei ihrer eigenen Erfahrungen bewusst werden.
„Zu meinen Lieblingsmärchen zählten schon immer die Klassiker Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, Die kleine Seejungfrau und Die Eiskönigin“, meint Kat Menschik. Das arme kleinen Mädchen, das sich im Frost der Weihnachtsnacht zu ihrer toten Großmutter hin träumt, nahm sie als Titelbild. Dazu, köstlich ironisch, „Das Liebespaar“ über einen Ball und einen Kreisel, „Das hässliche junge Entlein“ (Mobbing, wenn jemand anders ist), „Die Prinzessin auf der Erbse“ und als Zuckerstück „eine geradezu philosophische Geschichte“, die für Kat Menschik selbst eine Entdeckung war: „Die Schnecke und die Rosenhecke“ lässt zwei Mentalitäten aufeinanderstoßen, die sich eigentlich in verändern können.
Dazu gibt es „Die Nachtigall“ in einer Puppenspielversion von Karl Huck, sogar nebst Anleitung, wie man mit den abgebildeten Figuren das Stück selber nachspielen kann. Den Puppenspieler kennt Kat Menschik schon lange. Zusammen mit ihm hat sie ein Programm zu Andersens 150. Todestag entwickelt. Wer am 4. August auf Hiddensee sein sollte, ist dazu um 20 Uhr in die Homunkulus-Figurensammlung in Vitte eingeladen..
Hans Christian Andersen: Lieblingsmärchen von Kat Menschik. Galiani Berlin, 112 S., geb., 23 €.
Märchen voll hintergründiger Lebensweisheit
Zum 150. Todestag von H. C. Andersen, den Kinder in aller Welt lieben, aber Erwachsene umso besser verstehen
Irmtraud Gutschke
Immer wieder aufgelegt wurden seine Märchen und an die siebzig Mal verfilmt. Besonders häufig „Die Schneekönigin“. Zu dieser ergreifenden Geschichte, in der die kleine Gerda sich auf die abenteuerliche Suche nach ihrem Spielgefährten Kay macht, gibt es sogar eine Oper und ein Musical. Welchen sowjetischen Märchenfilm ich immer noch vor Augen habe, kann ich nicht sagen, denn es gab vier davon. Eine wunderschöne, machtvolle Frau in Weiß lässt alle Blumen gefrieren und verzaubert den Jungen so, dass er in ihren Schlitten steigt. Für den Freund geht Gerda durch viele Gefahren. Und als ihn endlich aufspürt im Eispalast, will er sie nicht einmal erkennen. Geistesabwesend versucht er, aus Eisplättchen, das Wort „Ewigkeit“ zu legen. Durch ihre Tränen erlöst sie ihn.
Wenn man Kindern Märchen vorliest, ist ihnen die Autorenschaft meist egal. Welche abgründigen Feinheiten Andersen in seinen Erzählungen unterbrachte, spürt man wohl erst, wenn man erwachsen ist. Und dann beginnt man sich auch für den Mann zu interessieren, der seine beiden Vornamen nicht ausschrieb, sondern sich als Künstler H. C. Andersen nannte. Denn mit seiner Kunst hatte er etwas zu verarbeiten, suchte dabei wohl auch eine Distanz zu sich selbst.
Wie man heute weiß, waren es die Folgen von Leberkrebs, an denen er am 4. August 1875 starb. Zwei Tage nach seinem 70. Geburtstag, als ihm in Kopenhagen ein Denkmal errichtet werden sollte. Erst fünf Jahre nach seinem Tod wurde es enthüllt. Zwar war dafür genügend Geld eingesammelt worden, aber es hatte Streit um die Gestaltung gegeben. Andersen war dagegen, dass der Bildhauer August Saabye ihn von Kindern umgeben darstellen wollte. Weil er zeitlebens unverheiratet blieb und keine Kinder hatte oder weil er sich, zu Recht, nicht nur als Kinderbuchautor verstand?
Zu seinem 150. Todestag wird es manche Ehrung geben, insbesondere in Odense auf der dänischen Insel Fünen, wo er 1805 als Sohn einer alkoholkranken Wäscherin und eines armen Schuhmachers geboren wurde und wo der japanische Stararchitekt Kengo Kuma inzwischen mit seinem „Andersen-Haus“ eine märchenhafte Welt aus Ton, Licht und Bildern erschaffen hat.
Ein verträumter Junge in bitterer Armut. Nach dem Tod des Vaters ging er allein und mittelos nach Kopenhagen. Mit 14 wollte er Schauspieler werden. Was nicht gelang, aber der Theaterdirektor Jonas Collin nahm ihn auf und kümmerte sich um seine Ausbildung.
Dass er heute der berühmteste Dichter Dänemarks ist, hatte mit diesem Glücksfall zu tun – und mit einer verborgenen Leidenschaft. Er hatte Zuneigung zu Collins Sohn Edvard gefasst, doch der war davon eher befremdet, wandte sich ab. Dass von ihm erwartet war, sich einer Frau zu verbinden, hat Andersen gewusst und versuchte es auch. Die Schwester seines Studienfreunds, in die er sich verliebt glaubte, war einem anderen versprochen. Wenn Frauen ihm später auch freundschaftlich gewogen waren – einen umfangreichen Briefwechsel gibt es mit der Malerin Clara Heinke – intime Nähe entstand daraus nicht.
Wenn es da auch Schmerz und Selbstzweifel gab, er musste sich selbst akzeptieren lernen, wie er war. Erklärungen wie in Magnus Hirschfelds Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen (1901) kamen erst später. Dass er schwul gewesen sein könnte, macht ihn heute umso interessanter. Es gibt sogar ein Musiktheaterstück, „Andersens Erzählungen“, dazu. Aber ist das nicht zu grob gedacht. Folgt es nicht einer „woken“ Welle?
Gewiss hat er in vielen seiner Märchen eigene Erfahrungen verdichtet, was sie ja auch so reizvoll macht. „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“: Wie herzzerreißend und bitter ist die Anklage der Wohlhabenden, die das Elend nicht schert. In der Weihnachtsnacht erfriert ein Kind, doch hat es sich zuletzt noch an seinem Traum gewärmt, die geliebte Großmutter würde es im Himmel erwarten. „Das hässliche junge Entlein“: Darin steckt doch des Autors eigene Geschichte, wie er herumgestoßen und verachtet, sich als Außenseiter fühlen musste. Aber auch ein Auftrumpfen ist darin. Denn eigentlich ist das Entlein ein Schwan.
Schließlich immer wieder das Thema unerwiderter, platonischer Liebe. Tragisch wie in „Die kleine Meerjungfrau“ – ihre Skulptur ist seit 1913 ein Wahrzeichen von Kopenhagen – oder ironisch wie in „Das Liebespaar“, wo ein Kreisel vergeblich um einen Ball wirbt, der sich mit einer Schwalbe verlobt hat. Jahre vergehen. In einer Mülltonne sehen sich beide wieder.
Neben seinen 156 Märchen die in 125 Sprachen übersetzt worden sind, hat Andersen auch autobiografische Texte, Novellen, Dramen, Gedichte und Reiseberichte verfasst. Da könnte mancher Schatz noch zu heben sein. Einige seiner Gedichte hat Adelbert von Chamisso ins Deutsche übersetzt, den Andersen 1831 auf einer Deutschlandreise kennenlernte. Ob er wohl seinerseits „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ (1814) gelesen hat?
Antiquarisch oder neu, in so vielen Ausgaben sind Andersens Märchen auf dem Markt, dass die Auswahl schwer fällt. Für nur 5,49 Euro gibt es da einen dicken, schweren Band mit Bildern von Nikolaus Heidelbach. Ganz neu erschienen ist ein von Daniela Drescher illustrierter Märchenband im Verlag Urachhaus. Besonders gefällt mir, wie die Grafikerin Kat Menschik in der Reihe ihrer „Lieblingsbücher“ bei Galiani Berlin mit dem von ihr verehrten Dichter umgegangen ist. Neben ihre heutigen Märchen-Illustrationen stellt sie das Faksimile ihres allerersten Buches, das sie als 14-Jährige für ihre Mutter anfertigte: „Das Feuerzeug“, in gestochen schöner Handschrift abgeschrieben und mit Aquarellbildern versehen. Was ist das für eine turbulente Geschichte über List und Tücke, Mut und Glück, drei Hunde mit riesigen Augen und eine wunderschöne Prinzessin. Und am Ende findet ein armer Soldat sogar sein Glück.
Schon als Zehnjährige hatte die Künstlerin eine Handpuppenbühne gebaut, um mit ihrer kleineren Schwester zusammen den Eltern das Märchen „Der Tannenbaum“ vorzuspielen. Und auch in dieser Ausgabe gibt es ein Puppenspiel nach Andersen: „Die Nachtigall“. Dazu sogar eine Anleitung, wie man es mit den abgebildeten Figuren nachspielen kann.
Beste Unterhaltung für Kinder, die sich bei „Die Schnecke und die Rosenhecke“ vielleicht langweilen würden. Die Schnecke „hatte vieles in sich, sie hatte sich selbst“. Die Hecke aber treibt Jahr für Jahr prächtige Blüten. „Ich erwarte viel von Ihnen“ , sagt sie zur Schnecke. „Sie haben nicht das Geringste für Ihre innere Entwicklung getan“, wirft die der Rose vor. Spottet der Autor über die Schnecke oder sieht er sich an ihrer Seite? Beides stimmt. Zwei ganz unterschiedliche Mentalitäten treffen aufeinander, können nicht aus ihrer Haut und müssen das Beste daraus machen. Und hat der Autor – in sich gekehrt und schreibend – nicht beides in sich vereint?
Hans Christian Andersen: Lieblingsmärchen von Kat Menschik. Galiani Berlin, 112 S., geb., 23 €.