28 nackte Rotarmisten
Spannend und voll gewitztem Hintersinn: Andrej Kurkow führt ins Jahr 1919 nach Kiew
Irmtraud Gutschke
Sie gingen in die Sauna, zogen sich aus, schwitzten, tranken wohl noch was – und wurden nicht mehr gesehen. Lediglich ihre Uniformen hingen noch da. Waren sie desertiert? Wie konnten 28 nackte Rotarmisten das „Galizische Bad“ unbemerkt verlassen haben? Wurden sie umgebracht? Aber wo waren ihre Leichen? In der Asservatenkammer der „Lybedsker Milizwache“ türmt sich ein Berg prall gefüllter Jutesäcke mit den Hinterlassenschaften der Verschwunden. Mit all ihren Papieren. „Was, wenn sie sich in der Banja umgezogen haben? Wir müssen noch einmal alles rundherum absuchen,“ überlegt der Ermittler Samson Koletschko, der bald auch selbst in Gefahr gerät.
Mysteriös, spannend und dabei satirisch aufgeladen ist dieser Krimi von Andrej Kurkow, aus dem Russischen übersetzt, weil der Autor, 1961 nahe St. Petersburg geboren, in dieser Sprache schreibt. Dass er der Ächtung alles Russischen hierzulande entgeht, verdankt er seinem Wohnort Kiew, wo er auch seine Romane spielen lässt. Ein Erfolgsautor, der seit 1996 auch zeitweise in London lebt. Seine Bücher wurden in 45 Sprachen übersetzt, informiert der Verlag. Er habe Fremdsprachen studiert, war Zeitungsredakteur und während seines Dienstes in der Sowjetarmee sei er Gefängniswärter gewesen.
Dass er durch eine glückliche Fügung an Dokumente des KGB gekommen sei, bekannte er 2022 in einem Interview mit der taz. „Bei der Lektüre dieser Akten wusste ich sofort: Hier habe ich die Basis für eine Serie von Kriminalromanen.“ Ob man’s glaubt oder nicht, jedenfalls mangelt es diesem Autor nicht an Erfindungskraft, die er mit Authentischem zu würzen weiß.
Dies ist nun schon der dritte Roman einer Krimiserie, die 2022 mit „Samson und Nadjeschda“ begann und mit „Samson und das gestohlene Herz“ fortgesetzt wurde. Empfangen wird man mit einem Straßenplan von Kiew, als die Stadt nach diversem Hin und Her 1919 wieder in sowjetischer Hand war. Aber die Lage ist unsicher. Es war „bald ein Jahr her, dass die gesamte Zarenfamilie erschossen worden war, was das Ende der Monarchie im Russischen Reich bedeutet hatte … Wird der Hetman zurückkehren oder werden die Bolschewiken an der Macht bleiben?“, überlegt Samson, als er vor einem Denkmal für Nikolaus I. steht. „Kommen vielleicht die Weißen und machen Kiew zur Hauptstadt Tauriens? Oder tauchen Machno und seine Leute wieder auf und plündern die Stadt so lange, bis sie wieder in ihr fröhliches Leben in Jekaterinoslaw zurückkehren?“
Voller überraschender Details ist der Roman. Das Absurde damaliger Realität wird als selbstverständlich genommen. Allerlei aberwitzige Einfälle kommen hinzu. Gleich am Anfang gibt es eine fingierte Erschießung, weil der Verurteilte geflohen war. Seitdem steht in Samsons Wohnung eine Schneiderpuppe mit Einschusslöchern. Bald zieht er ihr den Anzug seines getöteten Vaters über. Ihm selbst wurde damals ein Ohr abgeschlagen. Aber das verwest nicht, zartrosa liegt es in einer Tabaksdose und dient als Abhörgerät über ziemlich weite Strecken. Zur Aufklärung des Falls trägt eine Leiche auf dem Kutschbock bei (die Miliz war damals noch nicht mit Autos unterwegs). Und auch schwarzer Kaviar spielt eine Rolle, später in Moskau preiswert zu genießen. Heute nicht mehr, aber 1919, so heißt es, könnten dafür „sogar Morde begangen werden“.
Miliz und Tscheka in Konkurrenz, wobei klar ist, wer wen am meisten zu fürchten hat. Gab es einst wirklich so viele Chinesen in der Ukraine? Jedenfalls, so macht der Autor einem klar, dürfte es Illusion sein, den traditionellen großen und kleinen Gaunereien den Boden entziehen zu können. Damals kam noch „Klassenhass“ hinzu, die durch die Revolution entfesselte gerechte Wut auf Reiche, verbunden mit Unbildung, welche aus Armut resultierte.
Blutjunge Rotarmisten, harschen Befehlen unterworfen, die sie kaum verstehen. Man sieht sie vor sich und denkt an die Soldaten von heute, ob sie nun Russen oder Ukrainer sind. Damals gab es zwischen dieser Herkunft keine Unterschiede, alle sprachen Russisch. So jedenfalls erscheint es im Roman. Nicht nur im Kiewer Höhlenkloster mit seinen Katakomben empfängt man Echos aus der Gegenwart. Schließlich weiß man seit 2022 von Durchsuchungen und Verhaftungen dort. Die Mönche sollen weichen, der Metropolit Pawel wurde unter Hausarrest gestellt, weil die berühmte „Lawra“ Sinnbild für die uralten religiösen Verbindungen Russlands, der Ukraine und Belorusslands ist. Kein Zufall, dass es uns im Roman eines Nachts dorthin verschlägt. Doch führt uns der Autor erstmal durch unterirdische Gänge und beschreibt eine wilde Schießerei, welche auch die Tschekisten alarmierte. Samson war klar, dass ausgerechnet er sie ausgelöst hatte. „Nur eines freute ihn: Keiner der vielen Schüsse hatte einen Menschen getötet …“
Andrej Kurkow: Samson und das Galizische Bad. Krimi. Aus dem Russischen von Johanna Marx und Claudia Zecher. Mit Illustrationen von Juri Nikitin. Diogenes,
479 S., Leinen, 25 €.