Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Allan N.Derain: Das Meer der Aswang

Im Gewimmel der Geister

Allan N. Derain erweckt die alten philippinischen Mythen zum Leben

Irmtraud Gutschke

Ein Wunderwerk, über das man nur staunen kann. In eine völlig fremde Wirklichkeit werden wir versetzt. Nicht nur geographisch – wobei die philippinische Insel Panay inzwischen auch deutsche Touristen zu ihren malerischen Stränden lockt –, sondern überhaupt in unserem Weltverständnis. Höchstens noch in den Märchen begegnen uns Hexen und Zauberer, Elfen, schwarze Wichte, „Waldholde“ und „Faulatmige“. Aber die sind mit denen nicht gleichzusetzen, die uns hier umtanzen. Es ist eine Welt, in der alles möglich ist. Und das eben nicht wie im Märchen, wo Gut und Böse  voneinander geschieden sind und alles zu einem ermutigenden Ende kommen soll. In viel ältere Bewusstseinsschichten taucht Allan N. Derain mit uns hinab, wo alles viel chaotischer ist, offen für verschiedene Ausdeutungen.

Mythisches Bewusstsein, in dem sich alles verwandeln kann, weil Geistiges über Materielles triumphiert. Zauber der Magie in ihrer  frühen, ganz rohen Form, die irgendwie beim Überleben helfen sollte. Etwas tief Verschüttetes holte der philippinische Autor ans Licht – und das mit spielerischem Übermut.

Wie ging es zu, dass sich eine 15-Jährige in eine Krokodil verwandelte, welches natürlich kein gewöhnliches ist? Lag es daran, dass Luklak einen riesigen Aal grillte, der ihr Bruder war? Dass sich in jener Nacht seltsame Wesen zu ihr gesellten, die davon kosten wollten, dass ihre Spucke an den Gräten hängen blieb? Oder fiel sie in ein Trauma, weil ihre Mutter umgebracht wurde nach angeblicher Unzucht im Mangrovenwald? Sie schlief drei Tage und konnte nicht mehr stehen und laufen, obwohl sich der Heiler Antay Dapuan nach Kräften um sie bemühte …

Der Roman spielt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts während der spanischen Besatzung. Pater Obaba will den alten Glauben  bekämpfen. „Moros“, muslimische Piraten, bedrohen die Insel. Luklaks Vater tut auf einem Wachturm Dienst. Aber am Ende kommt es doch zu einer Schlacht. Schwarze und weiße Kraniche kämpfen gegeneinander, fünf Riesen tauchen auf und ein riesiger Lindwurm, der die Sonne verschluckt …

Zu dieser Zeit hatte Nagmalitung Yawa, „Törende Teuflin, Gütige Göttin“, schon längst ihr „Seelenschiff“ bestiegen und jeder ihrer Priesterinnen ein „kleines Buch mit geheimen Kenntnissen, zum Gebrauch für Heilungen und Schutzzauber“ hinterlassen. Aber weil die Babaylan die Buchstaben nicht verstanden, verwandelten sich die Bücher in Vögel. Die konnten sie schlucken und in sich tragen wie einen Talisman. Man sieht es auf einer der wunderschönen Illustrationen.

Wie es war, als die Menschen noch ohne Schrift lebten, auch das erlebt man hier. Denn die hochwohlgeborene Binukot genießt als Sängerin der alten Epen höchste Ehren und darf sich bedienen lassen, ohne dafür zu zahlen. Luklak muss ihr Haar pflegen, das heißt entlausen, aber die Dame ist auch hilfsbereit, als sie krank ist …

Dass wir eintauchen können in diese fremde Wirklichkeit verdanken wir Annette Hug, Schriftstellerin und Übersetzerin, die auf den Philippinen auch gearbeitet hat. „Wieviel Fremdheit soll in der Übersetzung noch zu hören sein, wieviel wird eingedeutscht?“ Mit dieser Frage hat sie es sich nicht leicht gemacht. Im ausführlichen Glossar, welches auch in der Originalausgabe enthalten ist, werden Figuren aus den Epen von Panay und andere sagenhafte Gestalten erklärt. Was aber fehlt, ist der Begriff „Aswang“. Auch Annette Hug kann ihn nicht erklären.

Wie würden die Menschen dort mit derlei Rätseln umgehen? Sie würden in ihren Träumen nach Lösungen suchen. Im Schlaf gelingt es mir nicht. Aber ich kann mir vorstellen, wie ich dem Autor gegenübersitze. Denn dieses Gefühl begleitete mich die ganze Zeit beim Lesen. Er ist modern gekleidet, aber wir sitzen in einer der traditionellen Pfahlbauten, die im Roman auch beschrieben sind, sagen wir, im Völkerkundemuseum. Er ist ja beim Schreiben nicht ganz in die Vergangenheit eingetaucht, sondern hielt immer, sei es auch durch leichte, ironische Zwischentöne, die Spannung zur Gegenwart. „Aswang“ – das erkläre ich doch schon zu Beginn: „Eine geübte Aswang kann eine Katze werden, ein Leuchtkäfer, eine Jakobsfrucht und ein Sternapfelbaum.“ Eine wandelnde Seele? Da höre ich ihn lachen: Ach, ihr Deutschen mit eurer Logik. Quälen Sie sich nicht mit Fragen, genießen Sie einfach.

Allan N.Derain: Das Meer der Aswang. Roman. Aus dem Filipino (Tagalog) von Annette Hug. Unionsverlag, 251 S., geb., 19,99 €.

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