Sklavin, Spionin, Geliebte …
Düster, rätselhaft und verspielt: „Die acht Leben der Frau Mook“ von Mirinae Lee
Irmtraud Gutschke
Virtuos! Ein so großer Wurf mit dem allerersten Roman! Vom Buchumschlag blickt einen eine puppenhaft geschminkte junge Frau an: Mirinae Lee, so erfährt man, ist in Südkorea geboren und aufgewachsen, hat in den USA englische Literatur studiert und lebt derzeit mit ihrer Familie in Hongkong. Ihr Buch, mit dem „William Saroyan International Prize for Writing“ ausgezeichnet, wurde bereits in über zehn Sprachen übersetzt. Im Original erschien es 2023 in London, wurde also auf Englisch geschrieben – von vornherein für den internationalen Buchmarkt. Und dem bietet die Autorin alles, was Leserinnen und Leser sich nur wünschen können: harte Realität und spielerische Fiktion, Rätsel, Spannung, große Emotionen.
Eine südkoreanische Seniorenresidenz: Spindeldürr, aber mit ihren 98 Jahren geistig hellwach, sitzt Frau Mook im Rollstuhl. Eine Mitarbeiterin im Heim, „siebenundvierzig und übergewichtig“, von ihrem Ehemann auf demütigende Weise verlassen, findet keinen Ausweg für ihren Zorn. Dass sie auf die Idee verfällt, die Alten aus ihren Erinnerungen erzählen zu lassen, ist im Grunde Selbsttherapie. : „Mit welchen drei Wörtern würden Sie Ihr Leben zusammenfassen?“ Vielleicht „Japanerin. Nordkoreanerin. Südkoreanerin“, fragt sie Frau Mook und erntet ein abfälliges Lachen. „Sklavin. Fluchtkünstlerin. Mörderin. Terroristin. Spionin. Mutter“ – wenn das kein Angebot ist!
Aus acht Abschnitten besteht das Buch. In einer Nachbemerkung gesteht Mirinae Lee, dass fünf von ihnen zwischen 2018 und 2021 als Kurzgeschichten in US-amerikanischen Literaturzeitschriften veröffentlich worden sind, ehe sie daraus einen Roman strickte. Inwieweit sie die Geschichten veränderte, damit die Chronologie eines ungewöhnlichen Lebens entstand, wäre interessant zu wissen. Aber noch wichtiger ist ihr literarischer Einfall, diese Chronologie schreibend zu durchbrechen und gleichsam durch die Zeiten zu springen. Von der „Geisterjungfrau an der nordkoreanischen Grenze“ 1961 zu einem Vatermord 1938 („Als ich aufhörte, Erde zu essen“), dann „Donnernder Beifall“ 1950, zurück zur „Geschichtenerzählerin“ in einem Bordell für japanische Truppen 1942 und so weiter.
Jeder einzelne Text tiefbewegend, weil es um ein Mädchen, eine Frau vor dem Hintergrund von Kriegen geht: dem Pazifikkrieg zwischen dem Japanischen Kaiserreich und der Volksrepublik China, in den später die USA eingriffen, und dem Koreakrieg, nachdem die Sowjetunion den Norden und die USA den Süden besetzten. 1953 durch einen Waffenstillstand beendet, führte dieser Krieg zur Teilung des Landes entlang des 38. Breitengrades. Deutlich, dass die Autorin für den Süden Partei ergreift, wobei sie Frau Mook auch für den nordkoreanischen Geheimdienst arbeiten lässt. Natürlich nicht unter ihrem Namen, den sie früher schon mehrmals gewechselt hat. Ihre Adoptivtochter Mihee folgt ihrem Beispiel.
Der Hintergrund ist also bitterernst: „ein ständiger Kampf, indem du entweder schlägst oder geschlagen wirst, stiehlst oder bestohlen wirst“. Wobei Frau Mook, wie immer sie sich gerade nennt, als Trotzige, Widerständige erscheint, eine, die zu allem fähig ist, um sich zu verteidigen. „Ich wollte auf keinen Fall ein hilfloses Opfer sein“. Nicht einmal als „Trostfrau“ in einem japanischen Militärbordell. Die Szenen von dort (die Autorin hat sich auf Berichte von Überlebenden gestützt) lassen einem den Atem stocken.
Gewalt und Gegengewalt – es ist bisweilen harter Tobak, mit welchen Mitteln sich die Ich-Erzählerin wehrt. Und dann, welche Überraschung, erkennt ein liebevoller Mann fünf Jahre später in ihr seine geliebte Ehefrau: Yongmal. Man ist irritiert: War die nicht in jener Hölle gestorben? Man blättert zurück, überzeugt sich und beginnt zu ahnen, dass Kaiyo in die Rolle ihrer toten Freundin schlüpfte und nun eine ungeahnte Liebe erlebt. Eine wunderbare Geschichte ist „Das Muttermal“, zu der sich die Autorin durch die berühmte Überlieferung von Martin Guerre und Arnaud de Tilh inspirieren ließ. Wie auch für spätere Kapitel durch Veröffentlichungen über Techniken der Spionage in Korea, wo verschiedene Geheimdienste ihre Netze aufspannten. In denen man verloren war, in die man sich aber auch retten konnte, wenn es keine anderen Möglichkeiten gab. „Genuss an der Täuschung“ – zumindest das scheint die Autorin auch selbst zu kennen.
Sie spielt mit uns, aber das tut sie grandios. Immer mal wieder müssen wir uns mit zunächst Rätselhaftem abfinden, können aber gewiss sein, dass wir irgendwann eine Antwort erhalten. Vielleicht im folgenden Kapitel, vielleicht auch später. Es ist ein großes literarisches Puzzle, das sich einem beim Lesen zusammensetzt. So exzellent komponiert ist das! So spannend! Man möchte alles erfahren, ergründen. Frau Mooks Gesprächspartnerin bekennt gegen Schluss, dass ihr beim Zuhören dieser wilden Geschichte stets „der Zweifel wie ein Papagei“ auf der „Schulter saß“, und erhält unerwartete Aufklärung.
Welch wilder Ritt durch ein Jahrhundert! Kann denn eine Frau das wirklich alles erlebt haben? Darauf gibt es nur eine Antwort: Die Autorin wollte es so.
Mirinae Lee: Die acht Leben der Frau Mook. Aus dem Englischen von Karen Gerwig. Unionsverlag. 333 S., geb., 24 €.