Der verleugnete Sohn
Sylvain Prudhomme erzählt von Kränkung und Heilung
Irmtraud Gutschke
Von diesem Buch blickt man auf, als ob man in einer anderen Welt gewesen wäre. Aber eigentlich möchte man nicht aufblicken, will unbedingt jenes Geheimnis lüften, das am Bodensee seinen Ursprung hat. In der Besatzung durch die französische Armee nach dem Zweiten Weltkrieg. „Lac de Constance“– Simon, dem Ich-Erzähler, geht das Wort nicht aus dem Kopf. Und es fällt ihm der algerische Arbeiter vom Gut seines Großvaters ein, der von dessen Liebe zu einer Deutschen wusste.
Algerien: bis 1962 unter französischer Herrschaft, und teils von Franzosen besiedelt. Mit welchen Grausamkeiten sich die Kolonialmacht acht Jahre lang der Unabhängigkeitsbewegung erwehrte, auch daran will Sylvain Prudhomme erinnern. In Kamerun, Burundi, Mauritius und im Niger wuchs er auf, arbeitete später mehrere Jahre in Afrika. Übersetzt von Claudia Kalscheuer, ist dies sein vierter Roman im Unionsverlag. Der Bezug zu Algerien ist darin nur ein Detail. Doch passt es zu seinem Anliegen: das Schweigen zu brechen.
Aber erst einmal sind wir bei der Beerdigung des Großvaters dabei, spüren Simons Beklemmung, als ihm ein Verwandter von der Existenz eines Kindes erzählt, von dem man nicht spricht. Eine Junge, verlassen, verheimlicht – nur „M.“ wird er im Buch genannt, als dürfe sein voller Name nicht ausgesprochen werden. Dass Simon ihn suchen will, bringt die fast 100-jährige Großmutter zur Weißglut. Verstoßen würde sie ihn, wenn er es täte.
Gefühle, verbunden mit der Forderung, sich in einem Konflikt für eine Seite zu entscheiden. An so vieles im eigenen Leben denkt man beim Lesen. Auch wir sind ja in wechselvolle Geschichte eingebunden – zwischen leuchtenden humanistischen Idealen und kriegerischer Denkungsart. Wie der Autor das alles in uns aufruft, während er uns ins augenblickliche Geschehen eintauchen lässt, macht die nachhaltige Wirkung des Buches aus. So ruhig erzählt Prudhomme, als ob er uns aus der Alltagshast herausholen wollte, damit wir uns auf den Augenblick einlassen und auf ungewohnte Gedankenbahnen.
Wir sollen verstehen: warum die Großeltern schwiegen, warum auch die Mutter ganz in der Gegenwart leben möchte und Simon detektivische Kräfte entfaltet. Um späterer Gerechtigkeit willen. Vielleicht will er auch eigenen Bedrückungen begegnen. Neben M. gibt es nämlich eine zweite Gestalt im Buch, deren Name nicht ausgeschrieben ist: A. Wie wunderbar hatte die Liebe zu ihr begonnen und wie banal war das Ende. Die zwei Söhne werden nun von den Eltern abwechselnd betreut, die nicht wissen, wie sie Verwandten und Freunden die Trennung erklären sollen.
Simon bekennt seine Einsamkeit, nicht mehr. Stand da zwischen ihm und A. etwas, wogegen Männer früher den Dolch gezückt hätten? Gibt es eine Gedankenverbindung zwischen der Mutter von M, wie Simon sie sich vorstellt? „Liebe und pfeif drauf, was du zu hören bekommen wirst“ – wird das auch als Recht von A. erkannt? Es sei sein bisher autobiographischster Roman, urteilt „L’Humanité“. Indem sich der Ich-Erzähler in den deutschen Jungen einfühlt, sucht er Heilung für sich selbst. M. war ja sogar allein im Taxi nach Frankreich gefahren, um den Vater kennenzulernen. Aber der schloss sich in seinem Zimmer ein. Und seine Frau, eifersüchtig im Grunde, wollte den Jungen schnellstens los sein.
Aber damit ist die Geschichte noch längst nicht zu Ende. Es bleibt spannend. Manche Wendung erwartet uns noch. Erfahren werden wir, dass rund 400.000 alliierte Besatzungssoldaten in Deutschland Kinder gezeugt und zurückgelassen haben, um Skandale zu vermeiden. Wie der Krieg Menschen verhärtet, überlegt man beim Lesen, und was Frieden von uns verlangt: dass wir uns nicht gegeneinander verschließen, das wir uns öffnen und gütiger miteinander sind.
Sylvain Prudhomme: Der Junge im Taxi. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Unionsverlag, 182 S., geb., 22 €.