Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Gabriele Gysi: Die nach, als Soldaten Verkehrspolizisten wurden

„Deutschland wird ohne Frieden nicht überleben“

Gabriele Gysi stellt Fragen aus ostdeutscher Sicht und wehrt sich gegen politische Gleichschaltung

Irmtraud Gutschke

Die Frage als „wichtigste Form des Nachdenkens“: So ungewöhnlich wie eindringlich ist dieses Buch von Gabriele Gysi. Denn präzis durchdachte Aussagen entstehen hier im Dialog. Mit wem? Mit sich selbst. Wie uns scheinbar endgültige Antworten umschwirren, macht beklommen. Alles scheint in Richtung Krieg zu drängen. Hysterie wie eine ansteckende Krankheit: „Im Moment ist Deutschland gespalten wie nie, hört man es aus allen Ecken schallen.“ Liegt darin „eine Fortschreibung deutscher Spaltung“? Was geschieht mit uns, was wäre zu tun?

Unsicherheit, Ohnmachtsgefühle –  umso mehr Grund, dieses Buch zu lesen. Zu den Fragen, die man sich auch selber stellt, finden sich  Antworten. Deutlicher, als man sie vielleicht auszusprechen wagt. Zustimmendes Nicken, manchmal auch Gegenfragen und Zweifeln – vieles arbeitet weiter in Gedanken, der Dialog setzt sich nach der Lektüre fort.

Bewundernswert, wie unverzagt Gabriele Gysi in ihrer „Befragung“ ist und wie brillant. „Die Nacht, als Soldaten Verkehrspolizisten wurden“: Der Titel bezieht sich auf den 9. November, als die Grenze zwischen beiden deutschen Staaten geöffnet wurde. Beim Untertitel –„Gibt es eine deutsche Frage?“– mag man im Verlag an den Erfolg  von Dirk Oschmann gedacht haben. Seine Polemik „Der Osten eine Erfindung des Westens“ wurde zum Bestseller. Gabriele Gysis Selbstbefragung zielt stärker auf Reflexion und ist ohne Furcht, dabei anzuecken.

Die Abwertung der DDR war Programm

Klare Sätze rufen geradezu danach, notiert und zitiert zu werden: „Der Betrug beginnt mit der Beschreibung des Untergangs der DDR als heldenhafte, friedliche Revolution.“ In Wirklichkeit war es ein „Raubzug nach Osten … Staatseigentum, Volkseigentum, wurde verscherbelt, und das geringe Privatvermögen der Bewohner der DDR … musste mit schwierigem juristischem Einsatz verteidigt werden.“ Delegitimierung von Biografien: „Von der DDR zum SED-Staat, vom SED-Staat zum Unrechtsstaat, vom Unrechtsstaat zum Unrechtsregime brauchte es nur eine kurze Zeit – ein halbes Jahr.“

„Die Abwertung der DDR war Programm.“ Scharfsinnig bemerkt  Gabriele Gysi, dass womöglich schon damals begann, was heute so beunruhigend ist: nämlich „den beschreibenden Charakter der Medien in einen steuernden umzuwandeln“. Gerade unter Ostdeutschen macht sich aus der Kenntnis von „Agitation und Propaganda“ (eine solche Abteilung gab es tatsächlich im ZK der SED) Skepsis breit.

Plädoyer für ostdeutsches Selbstbewusstsein

OstdeertuDass unsereins „deutsche Geschichte selbstbewusster“ erleben würde, heißt es im Buch. Ich denke, dass gesellschaftstheoretisches Wissen dabei hilfreich ist. Produktionsverhältnisse, welche die Entwicklung der Produktivkräfte hemmen, konnten nun mal keinen Bestand haben. Ökonomisch hat die DDR gegenüber der BRD verloren. Ohne Illusion war ich, was Kapitalismus bedeutet. Dass Ideologie ein Machtinstrument der jeweils herrschenden Klasse ist, war mir klar. Aber im Vergleich mit der DDR lockte der öffentliche Raum in der BRD mit Pluralität. Dass diese DDR-Erfahrungen weitgehend ausschloss, merkte ich bald. Aber eine Bedrohung   geistiger Freiheit durch ideologische Gleichschaltung war damals unvorstellbar.

„Haltungsjournalismus, Haltungsperformance sind gefragt“. Wie das zunehmend auch auf die Kunst übergreift, geht Gabriele Gysi besonders unter die Haut. Die ist tatsächlich in Gefahr, „als individuelle Spielerei abgewertet“ zu werden, „während einzelne Personen als Künstler aufgewertet werden. Aber die Kunst selbst wird, als Reflexion von Wirklichkeit, nicht mehr zur Kenntnis genommen.“ Sie verkommt zur Performance, zum Event. Das emotionale Erlebnis steht im Vordergrund, schließlich geht es um Verkäuflichkeit.  

Gabriele Gysi steht nicht im politischen Geschäft wie ihr jüngerer Bruder Gregor. Sie ist Schauspielerin und hat sich auch als Regisseurin einen Namen gemacht. Immer wieder bezieht sie sich auf Sophokles‘ „Antigone“, den Konflikt zwischen moralischer Integrität und Staatsgewalt. Shakespeare, Immanuel Kant, Goethe, Brecht, Rosa Luxemburg und viele andere werden herbeigerufen. Kunst als Anstiftung zu freiem Denken – diese Funktion ist heute tatsächlich ins Hintertreffen geraten. Sich irgendwie kritisch zu gebärden, garantiert zwar Aufmerksamkeit, aber die Botschaften sind oft vorhersehbar. „Man merkt die Absicht und man ist verstimmt“, wie es in Goethes „Torquato Tasso“ heißt.  Volkspädagogik, so gut gemeint sie auch sein mag, nervt.

„Wie ist es möglich, dass Gefühle massenhaft produziert und gleichgeschaltet werden können?“, wird gefragt. „Wollen wir wirklich jedes eigene Nachdenken über Geopolitik einstellen und stattdessen beim Betrachten von Showkämpfen in Talkrunden einschlafen?“ Aufrütteln will das Buch aus einer Lethargie, die zunehmend um sich greift, Mut machen, die Welt in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit zu begreifen. „Die Kriminalisierung von Zusammenhängen als Verschwörungstheorie ist eine Absurdität unserer Gegenwart bis in jedes einzelne Gespräch.“

In ihrem Beruf hat die Autorin gelernt: „Schauspielerische Darstellung geht vom Nichtwissen aus, verlangt die Frage ans Leben. Selbst die entschiedenste Behauptung spürt hinter sich die Frage und vor sich das Gegenargument.“ Dabei ist ihr ebenso klar, wie Inszenierungen entstehen und welche Macht sie haben, „denn ein Darsteller kann die Kraft der Inszenierung nicht sprengen, er oder sie kann nur abtreten, die Inszenierung läuft dann ohne den Spieler weiter.“

Lesend wird man das auch auf jenes „politische Hoftheater“ beziehen, das derzeit abläuft. „Gegenwärtig haben besonders europäische Politiker – als Präsidenten verkleidete Schauspieler – in den oberen Rängen des Theatrum mundi Platz genommen. Sie haben die Verwüstungen der Kriege ihrer Vorgänger gegen Russland vergessen … Sie fordern Krieg gegen Russland. Vielleicht verlangt die Brutalität der eigenen Intrigen untereinander dieses Ausmaß an Gewaltfantasien.“

Das mit dem nationalsozialistischen Aufbruchs zu vergleichen, allein schon die Mutmaßung tut weh. Als Tochter der kommunistisch-jüdischen Verleger Klaus und Irene Gysi liegt es der Autorin fern, die faschistische Gefahr unterschätzen. Da stellt sie mit Erschrecken fest, wie die Nazidiktatur verharmlost wird, indem man das Thema politisch instrumentalisiert im Kampf gegen Andersdenkende. „Eine Politik in diesen Verkleidungen gerät zum Karneval der Unkultur und bläst zur Jagd statt zur Verständigung.“ Rosa Luxemburg wird zitiert, dass „Freiheit immer Freiheit der Andersdenkenden“ ist.

Dieser Satz aus ihrer unvollendeten Schrift „Die Russische Revolution“ vom Herbst 2018 wird ja immer wieder gern herangezogen, weil er eine Kritik an den Bolschewiki enthält. Doch gilt er wohl für alle Machtsysteme, wenn sie sich erst durchsetzen müssen oder in Bedrohung geraten. Grundsätzlich war Rosa Luxemburg überzeugt, dass alles »von oben« Geschaffene zur  Diktatur einer Minderheit führt. Was sich in der Geschichte des Sozialismus zeigte, tritt jetzt umso deutlicher hervor, da eine Machtclique sich mit allen Mitteln gegen Veränderungen in der Welt wehrt, die nicht mehr zu stoppen sind.

Wir leben in der Mitte Europas

„Falls wir vom Krieg des Alltags nicht völlig erschöpft sind, schlagen die Kriege verteilt um den Erdball auf unsere Gehirne ein. Unablässig werden Stellungnahmen in die Welt gebrüllt, werden Gelder und Waffen um die Erde geschoben. Gibt es da Zeit, nachzudenken, zurückzuschauen, Konfliktlösungen statt Konfrontation zu suchen?“

Wir leben in der Mitte Europas. „Die deutsche Frage scheint mir immer mehr und immer wieder in der möglichen Orientierung nach West und Ost zu liegen“, so Gabriele Gysi. Handelnd in der deutschen Kultur verhaftet, die langen Verbindungen zu Russland verbindend leben …“ Auf eine solche Zeitenwende möchte man wohl hoffen. Aber statt „Bismarcksche Überlegungen zum sozialen Ausgleich und Frieden aufzugreifen, werden nationalsozialistische Dogmen zum Krieg gegen Russland europäisiert.“

„Deutschland muss um der eigenen Existenz willen friedensfähig sein. Alle Menschen brauchen Frieden, doch Deutschland wird ohne Frieden nicht überleben.“

Gabriele Gysi: Die Nacht, als Soldaten Verkehrspolizisten wurden. Gibt es noch eine deutsche Frage? Westend Verlag, 200 S., br., 20 €.

Weiter Beitrag

Zurück Beitrag

Antworten

 

© 2025 Literatursalon

Login