Porträt einer Zeitenwende
Irmtraud Gutschke
Ein großer, dicker Band, mehrere Kilo schwer – gewichtig und zugleich so prächtig. Eine Ausnahmeerscheinung auf dem deutschen Buchmarkt, der sich voller Hast um Mainstreamthemen dreht, um im Medienkonzert den Massengeschmack zu bedienen. Aber Manfred Pfister richtet sich an Menschen, die Gegenwart im geschichtlichen Prozess verstehen, ja, die überhaupt verstehen wollen. „Englische Renaissance“: Ja freilich, das war Shakespeare mit seinen berühmten Königsdramen, die hier im einzelnen auch vorgestellt werden. Aber es ist überhaupt eine Blütezeit der Literatur und Kunst gewesen. Edmund Spenser, John Milton, Christopher Marlowe, Thomas Morus, Thomas Bacon … für mich wenigstens mit dem Anglistikstudium verbunden, aber manches inzwischen verschüttetes Terrain.
Dieses Buch verführt zu Ausgrabungen. In Gänze und in einem Zug gelingt das nicht. Nur Stück für Stück kann man dabei vorgehen. „Unendlich viel Gestalten wachsen dort/ Auch Formen wild, die niemand je gedacht“, wie es bei Edmund Spencer über den „Garten des Adonis“ heißt, so kann diese Lektüre wirken. Dass man dafür aus der Hast des Alltags aussteigen muss, ist allein schon ein Gewinn. Lange, lange und immer wieder schlägt man das Buch auf – staunend über die Weisheit unserer Vorfahren, ihren Mut, geistiges Neuland zu betreten. So erinnerte mich die Lektüre an die Begeisterung, mit der ich als Kind in alten Lexika stöberte, das Überraschende suchend, besessen von Entdeckerlust. Wer hat denn heute noch alte Lexika zu Hause?
Manfred Pfister bestimmt. Lebenslange Studien liegen dem Buch des emeritierten Anglistikprofessors zugrunde. Wie lange mag er wohl daran gearbeitet haben? So lese ich dieses Buch auch als eine Ode an die Belesenheit. Die wurde von den hier vorgestellten großen Geistern der englischen Renaissance ebenso mit Selbstverständlichkeit gelebt. Es will einem scheinen, dass sie über eine humanistische Bildung verfügten, von der uns heute vieles verloren gegangen ist. Allein schon, we sie mit der Antike vertraut waren. Und welch große Worte sie für die Liebe fanden!
Natürlich ist mir klar, dass dies damals nur eine schmale gebildete Schicht betraf. So zeichnet der Band auch ein großes Gesellschaftsbild. Hofkultur und Großstadtmilieu, freie Künstler, die ihr Auskommen verdienen mussten, aber auch andere Länder kennenlernten, religiöse Streitigkeiten und politische Utopien… Ich gebe es zu: Die Zeit, die hier Gestalt gewinnt, bleibt erst einmal fern. Will weiter erkundet sein. Ja, dieses Buchgeschenk zu Weihnachten, es böte Lesestoff fürs ganze folgende Jahr. Und Stoff auch zum Schauen. Denn der Band ist opulent bebildert.
Und Trost. Immer wieder gab es Umbruchphasen in der Geschichte, die nicht das Ende der Welt bedeuteten. Schon damals vollzog sich eine „Zeitenwende“. Nur dass die Renaissance als Vorbote der kapitalistischen Moderne mit einer Widerentdeckung der Antike einherging, also zugleich von Geschichtsbewusstsein lebte, welches uns heute verlorenging.
Manfred Pfister: Englische Renaissance. Galiani Berlin, 480 S., geb., 98 €.