Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Manfred Pfister: Englische Renaissance

Porträt einer Zeitenwende

Irmtraud Gutschke

Ein großer, dicker Band, mehrere Kilo schwer – gewichtig und zugleich so prächtig. Eine Ausnahmeerscheinung auf dem deutschen Buchmarkt, der sich voller Hast um Mainstreamthemen dreht, um im Medienkonzert den Massengeschmack zu bedienen. Aber Manfred Pfister richtet sich an Menschen, die Gegenwart im geschichtlichen Prozess verstehen, ja, die überhaupt verstehen wollen. „Englische Renaissance“: Ja freilich, das war Shakespeare mit seinen berühmten Königsdramen, die hier im einzelnen auch vorgestellt werden. Aber es ist überhaupt eine Blütezeit der Literatur und Kunst gewesen. Edmund Spenser, John Milton, Christopher Marlowe, Thomas Morus, Thomas Bacon … für mich wenigstens mit dem Anglistikstudium verbunden, aber manches inzwischen verschüttetes Terrain.

Dieses Buch verführt zu Ausgrabungen. In Gänze und in einem Zug gelingt das nicht. Nur Stück für Stück kann man dabei vorgehen. „Unendlich viel Gestalten wachsen dort/ Auch Formen wild, die niemand je gedacht“, wie es bei Edmund Spencer über den „Garten des Adonis“ heißt, so kann diese Lektüre wirken. Dass man dafür aus der Hast des Alltags aussteigen muss, ist allein schon ein Gewinn. Lange, lange und immer wieder schlägt man das Buch auf – staunend über die Weisheit unserer Vorfahren, ihren Mut, geistiges Neuland zu betreten. So erinnerte mich die Lektüre an die Begeisterung, mit der ich als Kind in alten Lexika stöberte, das Überraschende suchend, besessen von Entdeckerlust. Wer hat denn heute noch alte Lexika zu Hause?

Manfred Pfister bestimmt. Lebenslange Studien liegen dem Buch des emeritierten Anglistikprofessors zugrunde. Wie lange mag er wohl daran gearbeitet haben? So lese ich dieses Buch auch als eine Ode an die Belesenheit. Die wurde von den hier vorgestellten großen Geistern der englischen Renaissance ebenso mit Selbstverständlichkeit gelebt. Es will einem scheinen, dass sie über eine humanistische Bildung verfügten, von der uns heute vieles verloren gegangen ist. Allein schon, we sie mit der Antike vertraut waren. Und welch große Worte sie für die Liebe fanden!

Natürlich ist mir klar, dass dies damals nur eine schmale gebildete Schicht betraf. So zeichnet der Band auch ein großes Gesellschaftsbild. Hofkultur und Großstadtmilieu, freie Künstler, die ihr Auskommen verdienen mussten, aber auch andere Länder kennenlernten, religiöse Streitigkeiten und politische Utopien… Ich gebe es zu: Die Zeit, die hier Gestalt gewinnt, bleibt erst einmal fern. Will weiter erkundet sein. Ja, dieses Buchgeschenk zu Weihnachten, es böte Lesestoff fürs ganze folgende Jahr. Und Stoff auch zum Schauen. Denn der Band ist opulent bebildert.

Und Trost. Immer wieder gab es Umbruchphasen in der Geschichte, die nicht das Ende der Welt bedeuteten. Schon damals vollzog sich eine „Zeitenwende“. Nur dass die Renaissance als Vorbote der kapitalistischen Moderne mit einer Widerentdeckung der Antike einherging, also zugleich von Geschichtsbewusstsein lebte, welches uns heute verlorenging.

Manfred Pfister: Englische Renaissance. Galiani Berlin, 480 S., geb., 98 €.

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