Verschiedene Welten
Irmtraud Gutschke
Dass sie als erste Deutsche 2024 den International Booker Prize gewann, wird Anlass für dieses Buch gewesen sein. Und Mitherausgeberin Anke S. Biendarra erklärt uns im letzten Kapitel auch, welchen Anteil die in New York ansässige Literaturagentur „Wylie“ mit ihrer sozialen Reputation und globalen Vernetzung hatte, Jenny Erpenbeck zur „Weltautorin“ zu machen. Denn zu Hause hatte sie zwar mehrere Preise, aber nicht den „Deutschen Buchpreis“ und den „Preis der Leipziger Buchmesse“ erhalten. Ja, so geht es zu: Verlage, Agenten, Medien sind unverzichtbar, um Autorinnen und Autoren bekannt zu machen. Zudem ist es verdienstvoll, wie Übersetzungen dafür sorgten, den englischsprachigen Buchmarkt für Jenny Erpenbecks Schreiben zu öffnen. Beleg dafür dürften auch die Beiträge der vorliegenden Ausgabe von „Text +Kritik“ sein.
Die Auswahl hat der Verlag den beiden Herausgeberinnen Anke S. Biendarra und Julia Schöll überlassen. Die eine lehrt an der University of California, die andere ist Professorin für Neuere deutsche Literatur an der TU Braunschweig. Weitere Literaturwissenschaftlerinnen aus den USA, Kanada, Frankreich kommen hinzu. Die Autorin mag es freuen, wenn da Stimmen von weit her ihr Werk loben. Wobei es eben doch nicht so sehr das Loben wie das Analysieren ist. Gewissenhaftes Analysieren, davon lebt das Buch, das unverzichtbar bleiben wird für alle, die sich, wo auch immer, theoretisch mit dem Werk von Jenny Erpenbeck befassen.
Was dabei aber mitunter zu kurz kommt, ist das einfühlende Reflektieren, von dem ja das Leseerlebnis lebt. Und das liegt wohl daran, dass die Autorin und diejenigen, die hier über sie schreiben aus verschiedenen Welten kommen. Es ist richtig, Jenny Erpenbeck als deutsche Autorin zu würdigen, ohne die Einschränkung „ost“ hinzuzusetzen. Aber um die Kraft ihres Schreibens zu verstehen, ist viel mehr über diese Herkunft nachzudenken. Mehr noch, stehen diejenigen, die diese Erfahrung nicht haben, vor einer besonderen Herausforderung: etwas in der Tiefe zu verstehen, was sie selber nur von Ferne gesehen haben. Wir Ostdeutschen mussten ja auch lernen, wie der Westen „tickt“. Dort aber schien es, dass man sich nicht zu bemühen braucht. Schließlich war die DDR ja untergegangen.
Dass „insbesondere das blutige Niederringen 8im Fall der Nazi-Diktatur) und friedliche Überwinden (im Fall des DDR-Sozialismus) totalitärer Systeme für internationale Leser:innen von besonderem Interesse“ bleibt, erklärt Anke S. Biendarra im letzten Kapitel. Dass diese ideologische Deutung mit Janny Erpenbecks Werk nichts zu tun hat, ist ihr egal, zumal sie die politischen Positionen der Autorin für „durchaus angreifbar“ hält. Inwieweit, das diskutiert sie nicht. Sie kämpft auch nicht darum, das ihr Nichtverständliche zu verstehen. Sie begibt sich nicht in ein geistiges Zwiegespräch, lässt wirkliche Nähe nicht zu.
Auch wenn andere Autorinnen gewissenhaft auf einzelne Werke eingehen, bleibt es beim analysierenden Beschreiben. Dass dies eine Frage der wissenschaftlichen Methodik ist, könnte man mir entgegenhalten. Vielleicht zu Recht. Jenny Erpenbecks Werke sind lieferbar. So viele Möglichkeiten sind offen, das hier nicht Gesagte für sich selbst lesend zu entdecken.
Jenny Erpenbeck. Text + Kritik. Herausgegeben von Anke S. Biendarra und Julia Schöll. Richard Boorberg Verlag, 102 S., br., 28 €.