Wir sind nicht der Nabel der Welt
Uwe Leuschner und Thomas Fasbender unterwegs zwischen Europa und Asien
Irmtraud Gutschke
„Der erste deutsche Bundeskanzler soll gesagt haben, Sibirien beginne am rechten Rheinufer“, schreibt Uwe Leuschner. Er hat im DDR-Außenhandel gearbeitet. Adenauers Grauen vor „Soffjetrussland“ war ihm fremd. Sein Gesprächspartner in diesem Buch ist Thomas Fasbender, auf Sylt und in Hamburg aufgewachsen, promovierter Philosoph und Journalist. Ein Ost-West-Duo also. Die unterschiedlichen Sozialisierungen und Erfahrungswelten könnten allein schon ein Buch tragen. Denn die „administrative Übernahme der fünfeinhalb neuen Bundesländer“ stellte ja noch längst keine deutsche Einheit her. Missachtet bis heute werden ostdeutsche Kompetenzen, „die dem vereinten Deutschland außenpolitisch und außenwirtschaftlich“ von Nutzen hätten sein können. Chancen wurden vertan, eine Brücke zum sich neu formierenden europäischen Osten zu schlagen. Statt nach 1990 auf eine nachhaltige europäische Friedensordnung hinzuarbeiten, so Uwe Leuschner, wurde „der Westen Richtung Osten ausgewalzt“. Ein machtpolitisches Unterfangen mit verheerenden Konsequenzen.
Thomas Fasbender, zwischen 1992 und 2015 als Manager und Unternehmer in Russland tätig, hat hautnah erlebt, was der Sturz in die Marktwirtschaft für die Bevölkerung dort bedeutete: 1992 stiegen die Preise um gut 2 500 Prozent. Aufschlussreich, wie Uwe Leuschner die „gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Prozesse der Jelzin- und Putin-Jahre“ im Zusammenhang mit den Konflikten der späten Sowjetunion begreift. Dass rund siebzig Prozent der sowjetischen Volkswirtschaft dem militärisch-industriellen Komplex gehörten, war mir neu. Aus dem dafür zuständigen KPdSU Funktionär Arkadij Wolski wurde dann „mit einem Federstrich“ der Vorsitzende des neu gegründeten Russischen Industrie- und Unternehmerverbandes.
Bis 2012 waren mehr als 6000 deutsche Firmen in der Russischen Föderation registriert und machten mit ihren über 400 000 Mitarbeitern dort in der Regel gute Geschäfte. Seit dem Staatsstreich 2014 in der Ukraine, dem beginnenden Bürgerkrieg im Osten und der russischen Intervention im Februar 2022 war es damit vorbei. Sanktionen statt Kooperation. Die tief verwurzelte Russophobie, die es im Westen nicht erst zu Zeiten des Kalten Krieges gab, flammte wieder auf. Und der latent vorhandene großrussische Nationalismus wurde in dem Maße politikbestimmend, wie der Westen Russland zu missionieren versuchte. „Die Kontinuität des Großmachtanspruchs liegt in der Natur und der Größe des Landes.“
Das Buch ist nicht aus einem Guss, sondern im Dialog entstanden. Grundsätzlichen Überlegungen werden immer wieder durch lebendige persönliche Erfahrungsberichte unterbrochen. Lachen musste ich bei der Anekdote über Peter den Ersten, die Thomas Fasbender zum Thema Korruption zum Besten gibt. Dabei hat er immer wieder erlebt, wie wichtig es ist, einander mit Ehrlichkeit und Respekt zu begegnen. „Der größte Fehler“, den man in Russland machen kann, sei „jede Form von Herablassung, Belehrung oder Schulmeisterei“.
Wie sich eine naiv-hochnäsige deutsche Außenpolitik diesbezüglich auswirkte, daran musste ich beim Lesen immer wieder denken. Nach 1990 hat es die Chance für eine europäische Friedensordnung unter Einbeziehung Russlands gegeben. Es blutet einem das Herz, wie sie vertan wurde, sodass wir uns heute in einem neuen Kalten Krieg befinden. Schlimmer noch, in einer Aufrüstungsspirale, die von Kriegshysterie begleitet wird. Angst vor einem heißem Krieg mit Russland wird geschürt. Von jungen Leuten hört man schon, dass sie auswandern wollten. Russland, wiederum zum Feind erklärt, hat das Vertrauen in den Westen verloren und sich zunehmend nach Süden und Osten orientiert. Wobei es auch für Deutschland verheerend wäre, sich von der aufstrebenden Wirtschaftsmacht China abzukoppeln.
Und spätestens hier kommt der Titel des Buches ins Spiel: Eurasien als gigantischer Kontinent, auf dem ein Großteil der Weltbevölkerunglebt. Auch wir, die wir gerade über die Völker im Osten mit ihren eigenen Traditionen und Lebensvorstellungen viel zu wenig wissen. Diese zu entdecken, lädt die Lektüre ein. Aus persönlicher Erfahrung wenden sich die Autoren gegen einen immer noch verbreiteten kolonialistischen Hochmut, der hierzulande mitunter gar nationalistische Züge hat. Wir sind nicht der Nabel der Welt. So selbstverständlich wie wir selber mit den Werten der europäischen Aufklärung leben, gibt es anderswo ganz andere Weltbilder. Diesbezüglich offen zu sein, den Anderen in seinem Anderssein zu respektieren, ist wichtig im persönlichen wie im gesellschaftlichen Sinne. „Wenn unsere Antwort auf die Herausforderung des Jahrhunderts lautet: Mit denen, die unser Werte nicht teilen, machen wir auch kein Geschäft – dann gute Nacht.“ Je mehr der Westen versuchte, die übrige Welt nach seinem Bild zu gestalten, umso entschiedener kehrte „die nichtwestliche Welt“ uns „den Rücken zu und macht ihr Ding.“
Uwe Leuschner war 25 Jahre lang als Logistiker in Russland, Zentralasien und China tätig, hatte mit dem Containerverkehr zwischen Europa und Fernost zu tun. Er hat erlebt, wie Städte aus dem Boden schossen, Knotenpunkte kontinentaler Infrastruktur und Fabriken an Orten neu entdeckter Rohstoffvorkommen entstanden. Ein ganzes Kapitel gibt es zur Eisernen Seidenstraße, den Schienenwegen zwischen China und Europa. In „Ein Laptop geht auf Reisen“ ist man sozusagen in einem Containerzug dabei.
Gegenwärtig ist zu befürchten, dass eine „globalisierte, von umspannenden Netzwerken durchzogene Welt einen politisch motivierten Rückbau erfährt“. Die USA und Russland hätten unter einer isolationistischen Politik noch am wenigsten zu leiden. Aber für Deutschland und China wäre ein Rückzug auf die Binnenmärkte kaum zu verkraften. In Zeiten von Blockbildung und Isolation haben wir die Wahl, ob Europa zur Friedensdrehscheibe oder zum Schlachtfeld wird.
Uwe Leuschner/ Thomas Fasbender: Der Eurasienkomplex. Warum und wie dem Westen die Zukunft entgleitet. Edition Ost, 255 S., br., 20 €.