Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters
Irmtraud Gutschke
Auf dem Titelbild zwei Männer – nur verschwommen zu hinter einer Glasscheibe voller Regentropfen. Wie gut das zu diesem Buch passt. Denn auch die Vorstellungen von der DDR verschwimmen doch mit der Zeit immer mehr. Die damit noch Erinnerungen verbinden, werden immer weniger. Viele haben davon keine eigenen, sondern nur fremde Bilder im Kopf.
Plattenbauten, die das Buch eröffnen gibt es heute noch. Die Hallesche Altstadt ist inzwischen saniert. Ja, es war ein Jammer, wie sie verkommen war. Dafür die Mieten etwas erhöhen? Aber mit „etwas“ wäre es nicht getan gewesen. Niedrige Mieten und preiswerte Waren des täglichen Bedarfs waren in einer Gesellschaft ein Muss, die sozial gerecht sein wollte, die sich die Subventionen aber immer weniger leisten konnte. Dabei war der Schnaps, den man auf einem der Fotos im Schaufenster sieht, überhaupt nicht billig. Naja, das sollte ja auch kein Grundnahrungsmittel sein.
Tristesse. Kinder spielen zwischen Steinen. Zwei alte Frauen haben sich lange keine neuen Mäntel gekauft. Die Arbeiter im Kupferbergbau Sangerhausen sind nicht zu beneiden, wie sie sich auf allen vieren durch die Flöze kriechen. Was mag aus ihnen geworden sein, als der Betrieb 1990 eingestellt wurde? Doch erst einmal bestand die DDR ja noch. Und Reinhard Hentze konnte sich mit vielen Leuten einer Meinung wissen, die angesichts der hohlen Parolen voller Frust waren, denn die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit wurde immer tiefer.
Der Band ist für den Halleschen Kunstverein und das Stadtmuseum Halle von John Palatini und Christian Drobe herausgegeben worden, die auch analytisch-essayistische Texte beigesteuert haben. Das Nachwort stammt von Johannes Beleites, Beauftragter des Landes Sachsen-Anhalt zu Aufarbeitung der SED-Diktatur, der in den Fotos „die erzwungene Gleichförmigkeit des realen Sozialismus“, aber auch „den gegenläufigen Drang nach Exzentrik und Exzess“ bemerkt. Natürlich habe der Fotograf „auch nicht an den ausgelegten Ködern vorbeigehen können: unzählige Parteilosungen in Kontexten, die sie sofort wieder zur unfreiwilligen Karikatur werden ließen“.
Wer wie ich in der DDR gelebt hat, kennt dieses bittere Gefühl zur Genüge, das in derlei Bildern steckt. „Unser Vertrauen den Kandidaten der Nationalen Front“ – und dahinter eine Wand, von welcher der Putz abblättert. Es steht sogar die Tür zu einer nicht gerade vertrauenerweckenden Toilette offen. Klar, dass man in DDR für derlei subversive Botschaften empfänglich, ja dankbar war, die es kaum an der Zensur vorbei in die Öffentlichkeit schaffen konnten. Agitation und Propaganda, oft so grobschlächtig, dass man sie zunehmend als Lüge empfand – im Widerspruch dagegen ist Ostdeutschen indes eine wichtige Erfahrung erwachsen: Ideologie zu erkennen, wenn sie sich zeigt. „Man merkt die Absicht und man ist verstimmt“, wie es in Goethes Schauspiel „Torquato Tasso“ heißt.
„Freiheit im Blick“: Vielerlei Gedanken weckt der Band. Sowieso liegt, wie immer, auch bei diesen Fotos die Wahrheit im Auge des Betrachters. „Unsere Republik ein Eckpfeiler des Friedens in Europa“ – und dahinter ein verlassener Bahndamm. Wer hat wohl zu welchem Zweck ein solches Plakat dort aufgestellt, hätte man sich damals fragen können. Von der subversiven Wirkung dieses Fotos auf heutige Betrachter hat Reinhard Hentze nichts ahnen können.
Reinhard Hentze: Freiheit im Blick. Fotografie 1981-1990. Mitteldeutscher Verlag, 160 S., geb., 32 €.