Wohntürme, Schafherden und eine uralte Religion
Irmtraud Gutschke
Auch wenn Tuschetien, wie es heißt, eines der meistbeworbenen Reiseziele in Georgien ist, diese beiden Bücher sind wohl die einzigen, die es auf dem deutschen Buchmarkt dazu gibt: ein repräsentativer Bild-Text-Band und ein Reiseführer – beide von hervorragenden Spezialisten erstellt. Prof. Stefan Applis, Hochschullehrer an der Universität Erlangen, ist auch Fotograf und hat schon preisgekrönte Bücher über die georgische Region Swanetien verfasst. Dr. des. Gwendoline Lemaitre ist Doktorandin der Anthropologie an der Universität von Paris Nanterre, und Prof. Florian Mühlfried lehrt Sozialanthropologie an der Ilia-Universität in Tbilissi. Im Mitteldeutschen Verlag fanden sie das Interesse, ja die Liebe, die es für die Gestaltung solcher Bücher braucht.
Tuschetien liegt im äußersten Nordosten von Georgien , an der Grenze zu den beiden zu Russland gehörenden Republiken Tschetschenien und Dagestan. Im Großen Kaukasus. Vom georgischen Tiefland aus führt nur „eine, sich in vielen Serpentinen über einen über einen weiteren Gebirgszug und den Abano-Pass windende, nicht asphaltierte Straße“ dorthin. Von Dagestan aus wäre es einfacher, aber da käme man aus Russland und müsste eine gut bewachte Grenze überqueren.
Wunderbare Fotos wecken Reiselust: Größere im Bild-Text-Band, kleinere im Reiseführer. Beeindruckende Gebirgslandschaften, Wohntürme, Reiter, Schafherden – stellenweise fühlte ich mich an Kirgistan erinnert. Transhumanz wird dieses Siedlungsmuster hier genannt. Wie in Kirgistan werden die Viehherden auch in Tuschetien auf die Sommerweiden gerieben und kehren im Winter in die Dörfer zurück. Auf dem Titelbild sind wir gleichsam inmitten einer solchen Hammelherde, gefolgt von einem Hirten zu Pferde. Wie in Kirgistan herrscht auf den Sommerweiden Selbstversorgung mit Fleisch und Käse, wie dort wird kein Schweinefleisch gegessen, was mit der Nähe zum Islam zusammenhängt.
Aber interessant ist: Die Tuschen sind keine Muslime. Und auch wenn es dort georgisch-orthodoxe Kirchen gibt, hat sich eine Nähe zur Naturreligion erhalten. Auch darin gibt es eine Parallele zu der Region, aus der Tschingis Aitmatow stammt. Allerdings fehlen im bergigen Nordwesten Kirgistans solche aus Steinen geschichteten Schreine, die mit einem Kreuz gekrönt sind und wo auch Tiere geopfert werden. In dem mittelasiatischen Land sind es vorislamische Einflüsse, die bis heute lebendig sind. Insbesondere Gwendoline Lemaitre hat sich für den großen Bild-Text-Band verdient gemacht, das tuschetische religiöse Brauchtum zu erforschen. „Vor der menschlichen Besiedlung, so heißt es, war die Region Tuschetien von Ungeheuern (dewebi) bewohnt. Sie waren den Menschen feindlich gesinnt und behinderten die menschliche Besiedlung. Dies ändert sich erst, nachdem eine Armee von göttlichen Wesen … die Ungeheuer aus der Region vertrieben hatte.“
Bei einem sommerlichen Jahresfest war Lemaitre dabei, fotografierte das Bilden einer Pyramide und einen rituellen Wettkampf, der ziemlich martialisch anmutet. Ein besonders schönes Foto von ihr ist auch das eines Schäfers mit einem nur wenige Tage alten Lamm. Florian Mühlfried lässt uns bei einem Totngedenken dabei sein Floria Applis führt uns in eine orthodoxe Kathedrale und war bei einer Taufe im Freien dabei. Zuschauen kann man auch, wie Käse und wie Butter hergestellt werden. Ein schweres Leben, zweifellos, aber so naturverbunden, wie es für uns nicht mehr sein kann.
Wie gesagt, manche der Fotos sind ebenfalls in dem Reiseführer enthalten, doch dient dieser stärker dem praktischen Gebrauch mit Karten und Wanderrouten. Für Interessierte gibt es professionelle Tourenanbieter und günstige Angebote von Übernachtungen per Internet. Touristen können stören, aber sie sind auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Da wollen die beiden Bände Appetit machen, einmal ein Abenteuer zu wagen und eine ganz besondere Landschaft zu entdecken.
Stefan Applis, Gwendoline Lemaitre, Florian Mühlfried: Tuschetien. Kultur- und Naturraumwandel im Großen Kaukasus. 144 S., br., 32 €.
Stefan Applis/ Florian Mühlfried: Tschetien entdecken. Ein Kultur- und Naturreiseführer für Georgien. 199 S., br., 26 €. Beide Mitteldeutscher Verlag.