Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

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Annie Ernaux: Die leeren Schränke

Immer weiter nach oben

„Die leeren Schränke“: der erste Roman von Annie Ernaux

Irmtraud Gutsche

2022 hat sie den Nobelpreis für Literatur bekommen, also wurde es Zeit, dass auch der erste Roman von Annie Ernaux an die deutschen Leser gelangt. Ein Schlüsselwerk ist es wohl wirklich für das Verständnis der inzwischen weltberühmten französischen Schriftstellerin, die auch später, lakonischer vielleicht, Autobiographisches umkreiste. Doch bereits 1973 spürte man ihre eminente Sprachkraft – und ihren Zorn, ihre Traurigkeit, ihr Gedemütigtsein, ihren Selbsthass. All diese eigentlich niederdrückenden Gefühle, die ihr Schreiben so eindringlich werden lassen. So mutig, denn eine illegale Abtreibung zu beschreiben – eine legale hätte es nicht gegeben – war damals ein Tabubruch. Auch künftig würden Tabus nicht vor ihr sicher sein.

Der ganze Roman handelt davon, wie die zwanzigjährige Literaturstudentin Denise Lesure in ihrem Zimmer darauf wartet, ihr Embryo zu verlieren, nachdem ihr eine „Alte“ eine rote Sonde in die Vagina geschoben hatte. „Durchbohrt, aufgerissen, zugestopft, ich frage mich, ob sie jemals wieder zu gebrauchen sein wird … Niemand hat Schuld. Nur ich, ganz allein … Die Tochter des Krämers Lesur“. Erst fühlte sie sich als ein „Trampel in weißen Kleinmädchensocken“, dann wurde sie als Klassenbeste „eine Stipendiatin an der Uni“. Sie könnte froh sein, aber diese „Arzt- und Ingenieurstöchter“ neben sich zu sehen, ist ihr unerträglich. Sie hasst die Welt der Wohlhabenderen, zu der sie unbedingt gehören will, aber eigentlich hasst sie sich selbst.

Dabei ist ihre Herkunft zwar bescheiden, aber nicht wirklich arm. Die Eltern besitzen immerhin einen Laden und eine Kneipe – eine „Institution“, wie sie schreibt. „Kunden und Gäste fallen in Scharen ein“. Sie wird geliebt und nennt die Eltern doch „Kleinverdiener, Jammergestalten“ – auch wenn man es nicht will, lesend lehnt man sich gegen die Autorin auf. Aber deshalb ist sie ja so berühmt geworden: wegen ihrer Radikalität, sich selbst in Frage zu stellen. Es war ihr Verdienst, die soziale Ungerechtigkeit sprachmächtig in die Literatur gebracht zu haben. Nur will es einem hier scheinen, dass es ihr gar nicht an Gerechtigkeit für alle gelegen ist, sondern nur an der eigenen Durchsetzungskraft, dem Aufstieg, der durch ihre Herkunft gebremst wird, viel schwerer ist als für diejenigen, die ihn weiter oben begonnen haben.

 Wobei diese Abtreibung ein einschneidendes Erlebnis war, zumal Denises Freund – im Buch ist es der selbstbewusste Marc –, mit ihrer Schwangerschaft nicht zurechtkam. Er liebte sie wohl nicht genug. Aber liebte sie ihn denn? „Ein Schnösel mit Klasse, schwarzer Regenschirm, Ledertasche …“ Hier geht es nicht um die Tragödie einer verlassenen Frau, sondern um die Lage von Frauen insgesamt. Die Eltern wären sofort mit dem Wort „Flittchen“ zur Hand. Sie erinnert sich an das Getratsche im Laden, als die „kleine Barret“ mit drei Kerlen erwischt worden war. Eine Vergewaltigung, doch man gibt ihr die Schuld.

Die Prüderie, die Engstirnigkeit, die Hilflosigkeit, keinen Arzt zu finden für ihr Problem – im Roman „Das Ereignis“ von 2021 hat sie diese Episode in ihrem Leben noch einmal in aller Drastik aufgegriffen. Die Verfilmung gewann einen „Goldenen Löwen“ in Venedig. Seit 1975 ist  Schwangerschaftsabbruch in Frankreich legal. Inzwischen soll dieses Recht in der Verfassung verankert werden. Ernaux scheint etwas bewirkt zu haben. Was in diesem frühen Werk aber vorrangig verhandelt wird ist die Spaltung der kapitalistischen Gesellschaft – nicht nur schlechthin in Arm und Reich, sondern in ein viel differenzierteres „Kastensystem“, wie es die US-amerikanische Pulitzerpreisträgerin Jeanette Wilkerson in ihrem Band „Kaste“ jüngst auf eindrucksvolle Weise analysierte. Denise im Roman stellt es nicht in Frage, sondern übernimmt die Regeln. „Die anderen lachten mich aus, lachten meine Eltern aus.“ Also werden Vater und Mutter ihr verächtlich. 

So drastisch wie Ernaux die Gefühle ihrer Protagonistin schildert, denkt man mitunter an ironische Rollenprosa. Tatsächlich könnte ihre Selbstbeobachtung auch absichtsvoll ironisch sein. Dass man an Denises Seite ist und gleichzeitig in Distanz, gehört zur Wirkung des Buches. Den Wunsch: „in einer schöneren, saubereren, reicheren Welt als meiner eigenen zu leben“, kann man verstehen, doch führt er hier eben nicht zur Solidarität mit den Benachteiligten, vielmehr zu ihrer Abwertung. „Hauptsache, jemand sein, immer weiter nach oben“ – so hält Ernaux der Ellenbogengesellschaft einen Spiegel vor. Denis Lesure schockiert, weil sie auf einer unteren Etage jenen Egoismus für sich beansprucht, über den weiter oben niemand die Nase rümpft.

Annie Ernaux: Die leeren Schränke. Aus dem Französischen von Sonja Fick. Suhrkamp, 218 S., geb., 23 €.

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