Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Barbara Frischmuth: Dein Schatten tanzt in der Küche

Memento mori und Carpe diem

Barbara Frischmuth erzählt von fünf starken Frauen, ihren Schmerzen, ihrer Tapferkeit

Von Irmtraud Gutschke

 „Dein Schatten tanzt in der Küche“ – welch vielversprechender Titel für ein Buch! In der gleichnamigen Erzählung von Barbara Frischmuth liest eine junge Frau den Satz auf Arabisch in einem Schulheft. Sie ist verblüfft, dass sie ihn versteht, glaubte sie doch die Sprache ihres Vaters für immer verloren zu haben. Mit ihren Gedächtnislücken nach der traumatischen Flucht übers Meer hat Darya sich abgefunden, Fuß gefasst in der Fremde und sogar einen netten Mann kennengelernt. Die Sprache ihrer Mutter ist ihr ja geblieben. Kindern aus verschiedenen Ländern bringt sie Englisch bei. Da taucht eines Tages jener Junge auf, der ihr „irgendwie bekannt vorkam“. Ein „Dichter“ sei er, meint ein ukrainisches Mädchen. Er nennt seinen Namen – Adnan – und sagt, dass sein Vater auf der Flucht ertrunken sei. „Darya griff nach ihrem Kopf, als hätte sie jemand geschlagen.“ Adnan hieß auch jener Mann, der im Schlauchboot neben ihr saß …

Vom Unvorhersehbaren leben die Texte dieses Bandes. Trotz untergründiger Vielschichtigkeit scheinen sie einfach und „geradeaus“ erzählt. Aber das Leben ist nicht geradlinig. Immer hält es Überraschungen bereit, jähe Wendungen, auf die niemand gefasst war. Ich erkannte mich beim Lesen wieder einmal selbst: wie ich voller Spannung auf günstige Fügungen hoffe, die eintreten können, aber nicht garantiert sind. Die Erzählung „Enkelhaft“ findet allerdings ein glückliches Ende. Agnes, in Ungarn in armen Verhältnissen aufgewachsen, hatte von ihrem Mann oft zu hören bekommen, er habe sie „aus der Gosse“ geholt. Nun ist er zu einer anderen Frau gezogen, und sie ist froh, allein und unabhängig zu sein. Da bringt ihr die Tochter den Sohn ihres Freundes ins Haus, weil sie beide „eine Auszeit“ brauchen. „Ein wildfremdes Kind“! Wie in einem Film führt die Autorin vor Augen, wie Agnes‘ Leben durcheinandergerät, durch welche Erschütterungen sie gehen muss. Zur Sorge um den Jungen, der nach der Schule auf sich warten lässt, kommt untergründig die Angst, der Tochter könne in Ungarn dasselbe widerfahren wie ihr selbst…

Barbara Frischmuth wird am 5. Juli achzig. In vorliegendem Band bündeln sich noch einmal wichtige Themen ihres Schaffens: die Begegnung verschiedener Kulturen – die österreichische Autorin hat Orientalistik studiert ­– und vor allem das weibliche Ringen um ein selbstbestimmtes Leben. Die fünf Frauen in diesen Texten mussten lernen, mit Verlusten klarzukommen – der Heimat, des Lebenspartners, von dem sie durch Verrat, Scheidung oder Tod getrennt worden sind. Sie ducken sich nicht, sie lehnen sich auf. Fast grotesk wirkt es, wie Amelie, eine alternde Schauspielerin, noch einmal in ihre Glanzrolle schlüpfen will, und beinahe hätte sich die Tür zu einem erotischen Neubeginn geöffnet. „Ein Leben leben, das mir wert ist, gelebt zu werden.“ Dieser Entschluss bleibt. Auch in den anderen Texten spürt man, wie die Autorin sich Mut zuspricht – und uns, ihren Leserinnen und Lesern.

Wenn Paula ihre Geiß an der Leine führt, rufen die Dorfkinder ihr „Hexe“ hinterher und eine Sozialarbeiterin mahnt, man müsse sich langfristig um einen Heimplatz bemühen. Paula wehrt ab. Man staunt, wie tapfer diese Frau ist, wie sie sich an den täglichen Verrichtungen festhält, mit immer größerer Mühe, und wie sie sich schließlich in ein Unvermeidliches schickt. Dagegen ist Doris in der letzten Erzählung noch jung. Sie hat ihr Kind verloren und Odön, ihr viel älterer Geliebter, hat sie verlassen. Davon erzählt Frischmuth aus zwei Perspektiven. Mit ihren Vorgeschichten leben Doris und Odön auf Künftiges hin. machen Pläne, als ob das Leben ewig wäre ..

Der Tod ist immer im Hintergrund in diesen Texten, so wie es ja in unser aller Leben ist. Dies zu bedenken im Sinne eines „Memento mori“ mag mit achtzig bedrückender sein, als es mit zwanzig war. Indes für jedes Lebensalter gilt: „Carpe diem“ – nutze den Tag solange du lebst.

Barbara Frischmuth: Dein Schatten tanzt in der Küche. Erzählungen. Aufbau Verlag, 223 S., geb., 19,50 €.

Memento mori und Carpe diem

Barbara Frischmuth erzählt von fünf starken Frauen, ihren Schmerzen, ihrer Tapferkeit

Von Irmtraud Gutschke

 „Dein Schatten tanzt in der Küche“ – welch vielversprechender Titel für ein Buch! In der gleichnamigen Erzählung von Barbara Frischmuth liest eine junge Frau den Satz auf Arabisch in einem Schulheft. Sie ist verblüfft, dass sie ihn versteht, glaubte sie doch die Sprache ihres Vaters für immer verloren zu haben. Mit ihren Gedächtnislücken nach der traumatischen Flucht übers Meer hat Darya sich abgefunden, Fuß gefasst in der Fremde und sogar einen netten Mann kennengelernt. Die Sprache ihrer Mutter ist ihr ja geblieben. Kindern aus verschiedenen Ländern bringt sie Englisch bei. Da taucht eines Tages jener Junge auf, der ihr „irgendwie bekannt vorkam“. Ein „Dichter“ sei er, meint ein ukrainisches Mädchen. Er nennt seinen Namen – Adnan – und sagt, dass sein Vater auf der Flucht ertrunken sei. „Darya griff nach ihrem Kopf, als hätte sie jemand geschlagen.“ Adnan hieß auch jener Mann, der im Schlauchboot neben ihr saß …

Vom Unvorhersehbaren leben die Texte dieses Bandes. Trotz untergründiger Vielschichtigkeit scheinen sie einfach und „geradeaus“ erzählt. Aber das Leben ist nicht geradlinig. Immer hält es Überraschungen bereit, jähe Wendungen, auf die niemand gefasst war. Ich erkannte mich beim Lesen wieder einmal selbst: wie ich voller Spannung auf günstige Fügungen hoffe, die eintreten können, aber nicht garantiert sind. Die Erzählung „Enkelhaft“ findet allerdings ein glückliches Ende. Agnes, in Ungarn in armen Verhältnissen aufgewachsen, hatte von ihrem Mann oft zu hören bekommen, er habe sie „aus der Gosse“ geholt. Nun ist er zu einer anderen Frau gezogen, und sie ist froh, allein und unabhängig zu sein. Da bringt ihr die Tochter den Sohn ihres Freundes ins Haus, weil sie beide „eine Auszeit“ brauchen. „Ein wildfremdes Kind“! Wie in einem Film führt die Autorin vor Augen, wie Agnes‘ Leben durcheinandergerät, durch welche Erschütterungen sie gehen muss. Zur Sorge um den Jungen, der nach der Schule auf sich warten lässt, kommt untergründig die Angst, der Tochter könne in Ungarn dasselbe widerfahren wie ihr selbst…

Barbara Frischmuth wird am 5. Juli achzig. In vorliegendem Band bündeln sich noch einmal wichtige Themen ihres Schaffens: die Begegnung verschiedener Kulturen – die österreichische Autorin hat Orientalistik studiert ­– und vor allem das weibliche Ringen um ein selbstbestimmtes Leben. Die fünf Frauen in diesen Texten mussten lernen, mit Verlusten klarzukommen – der Heimat, des Lebenspartners, von dem sie durch Verrat, Scheidung oder Tod getrennt worden sind. Sie ducken sich nicht, sie lehnen sich auf. Fast grotesk wirkt es, wie Amelie, eine alternde Schauspielerin, noch einmal in ihre Glanzrolle schlüpfen will, und beinahe hätte sich die Tür zu einem erotischen Neubeginn geöffnet. „Ein Leben leben, das mir wert ist, gelebt zu werden.“ Dieser Entschluss bleibt. Auch in den anderen Texten spürt man, wie die Autorin sich Mut zuspricht – und uns, ihren Leserinnen und Lesern.

Wenn Paula ihre Geiß an der Leine führt, rufen die Dorfkinder ihr „Hexe“ hinterher und eine Sozialarbeiterin mahnt, man müsse sich langfristig um einen Heimplatz bemühen. Paula wehrt ab. Man staunt, wie tapfer diese Frau ist, wie sie sich an den täglichen Verrichtungen festhält, mit immer größerer Mühe, und wie sie sich schließlich in ein Unvermeidliches schickt. Dagegen ist Doris in der letzten Erzählung noch jung. Sie hat ihr Kind verloren und Odön, ihr viel älterer Geliebter, hat sie verlassen. Davon erzählt Frischmuth aus zwei Perspektiven. Mit ihren Vorgeschichten leben Doris und Odön auf Künftiges hin. machen Pläne, als ob das Leben ewig wäre ..

Der Tod ist immer im Hintergrund in diesen Texten, so wie es ja in unser aller Leben ist. Dies zu bedenken im Sinne eines „Memento mori“ mag mit achtzig bedrückender sein, als es mit zwanzig war. Indes für jedes Lebensalter gilt: „Carpe diem“ – nutze den Tag solange du lebst.

Barbara Frischmuth: Dein Schatten tanzt in der Küche. Erzählungen. Aufbau Verlag, 223 S., geb., 19,50 €.

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