Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Claudia Piñeiro: Kathedralen

„Gottes Wille geschah“

Die Familie als riesengroße Narbe: „Kathedralen“ von Claudia Piñeiro

Irmtraud Gutschke

Eine 17-Jährige wurde zerstückelt und verbrannt auf einer Müllhalde gefunden. Die Polizei ging von Vergewaltigung mit anschließender Tötung aus. Die Ermittlungen wurden bald eingestellt. Die Angehörigen blieben mit ihrer Verzweiflung allein. Ein erschütterndes Geheimnis zerreißt die Familie Sardá, von der Claudia Piñeiro in ihrem neuen Roman erzählt. Wer hat Ana umgebracht? Mit dieser Frage quält sich ihre Schwester Lía so sehr, dass sie fortan nicht mehr an Gott glauben kann und mit diesem Bekenntnis ihre Eltern verstört. Die nun auch sie, die Gottlose, betrauern, zumal sie bald aus Argentinien nach Spanien zieht. In Santiago de Compostela betreibt sie eine Buchhandlung, wo dreißig Jahre nach Anas Tod ihre ältere Schwester Carmen mit ihrem Mann Julián auftaucht. Ihr Sohn Mateo sei verschwunden, sie würden ihn in Santiago vermuten. Als sie sich verabschieden, bemerkt Lía auf dem Tisch ein Metallkästchen. „Da ist Papas Asche drin“, sagt Carmen ungerührt. „Also, die Hälfte davon. Die andere Hälfte habe ich in Mamas Grab getan.“ Lía wäre fast ohnmächtig geworden. Dass der Vater gestorben war, hatte sie nicht gewusst …

Für die mehrfach preisgekrönte argentinischen Autorin ist dies das zehnte Buch im Unionsverlag Zürich. „Kathedralen“ wurde 2021 mit dem „Premio Hammett“ ausgezeichnet, der alljährlich von der Internationalen Vereinigung der Kriminalschriftsteller während einer sogenannten „Schwarzen Woche“ vergeben wird. Dabei ist dies kein Kriminalroman nach dem üblichen Muster von Schuld und Strafe. Eher ist es ein Puzzle, das man sich selbst zusammensetzen muss, als Ermittler und Richter in einer Person.

In sieben Kapiteln kommen uns unterschiedliche Sichtweisen auf das Geschehen vor Augen. In  inneren Monologen versetzt sich die Autorin in die Gestalten hinein, wobei ihr Lías Empörung am deutlichsten aus dem Herzen spricht. Etwas Schreckliches ist geschehen und wird unter den Teppich gekehrt. In ihrer Erschütterung ist sie allein. Mateo, der keineswegs verschollen ist, sondern auf einer Reise zu verschiedenen Kathedralen in Europa, in Santiago Station machen will, soll Lía einen Brief ihres Vaters übergeben. Von allen hat er den größten Astand zum Geschehen: „Meine Familie, das ist eine einzige riesengroße Narbe, die ein Mord hinterlassen hat.“

Hätte er mit Lía gleich jenen Brief gelesen wäre der Roman wohl schon zu Ende. So aber folgt ein tief berührendes Kapitel, in dem Marcela spricht, die mit Ana zur Schule ging und uns die Tote ganz lebendig werden lässt. Ana sei nicht ermordet worden, sondern in der Kirche in ihren Armen gestorben. Als sie allerdings loslief, um Hilfe zu holen, habe sich ihr Ärmel im Bronzesockel des Erzengels Gabriel verfangen. Die schwere Statue kippte um und traf ihren Kopf. Seitdem ist ihr Kurzzeitgedächtnis zerstört, sie gilt als psychisch beeinträchtigt, und kaum jemand glaubt ihren Worten. Dabei ist alles, was vor ihrem Unfall geschah,  ihr in genauester Erinnerung – auch das, worüber zu schweigen, sie Ana geschworen hat.

Wobei wir dieses Geheimnis ja aus ihrem Monolog erfahren und nun hoffen, dass Elmer, ein von Anas Vater Alfredo bezahlter Detektiv, die richtigen Schlussfolgerungen zieht. In den folgenden zwei Kapiteln enthüllt sich dann die ganze schreckliche Wahrheit. Ahnten wir schon, wer die Schuldigen sind? Aber selbst wenn, die kalten Geständnisse einer blutigen Tat, die zynischen Rechtfertigungen machen schaudern. Die Schuld wird dem Opfer zugeschrieben: „Sie war siebzehn. Was kann ich dafür?“ Verantwortung wird delegiert: „Gottes Wille geschah.“ Bereits auf den ersten Seiten war ja spürbar, dass es der Autorin nicht allein um die Aufklärung eines Kriminalfalls, sondern auch um dessen gesellschaftliche Hintergründe ging: Abrechnung mit dem Katholizismus im Heimatland des Papstes, wo die Kirche eine Institution öffentlichen Rechts ist und erheblichen Einfluss auf die Politik hat. Im Original erschien der Roman 2020, als das Thema Abtreibung die Gesellschaft spaltete. Inzwischen sind Schwangerschaftsabbrüche bis zur 14. Woche legal, was nicht heißt, dass sie von Teilen der Bevölkerung nicht auch verurteilt werden. Da gibt Piñeiro der Kirche Schuld zu, die zum Zwecke ihrer Macht Fanatismus nicht nur zulässt, sondern sogar noch gutheißt. Wo das Dogma regiert, findet die Scheinheiligkeit fruchtbaren Boden, eigene egoistische Ziele hinter religiösem Eifer zu verstecken. Diese Art Katholizismus mag einem fremd sein, doch im übertragenen Sine betrifft das Buch eigentlich jede Idee, die Menschen zur Mitleidlosigkeit anderen und auch sich selbst gegenüber verdammt.

Claudia Piñeiro: Kathedralen. Roman. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag, 311 S., geb., 24 €.

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