Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

„Der Richtplatz“

„Alles ist im Wort“

Tschingis Aitmatow und die Bibel

Irmtraud Gutschke

„Sie aber sangen, diese zehn, miteinander in Gott verbunden, damit wir uns in unser Selbst vertiefen konnten, in die kreiselnden Strudel des Unterbewussten, damit wir das Vergangene in uns wiedererweckten, den Geist und die Schmerzen dahingeschiedener Generationen, damit wir uns dann  emporschwingen könnten, über uns selbst und die Welt hinausflögen, die Schönheit und den Sinn der eigenen Vorherbestimmung fänden, und, nachdem wir nun einmal ins Leben gekommen waren, dessen herrliche Gestalt liebgewönnen …“

Reichlich zehn Seiten widmet Tschingis Aitmatow im Roman „Der Richtplatz“ dem erhebenden Erlebnis eines geistlichen Konzerts in Moskau. Er hat es wohl selbst erlebt. Womöglich zum ersten Mal – im Unterschied zum Priesterschüler Awdij, aus dessen Sicht er erzählt,. Als Sohn eines Diakons lebte Awdij Kallistratow von Kindheit an mit der orthodoxen Liturgie. Aitmatows Vater indes war ein kommunistischer Funktionär gewesen – „ein Mensch von inbrünstigem Glauben“ auch er. Dass er nie mehr wiederkehren würde, nachdem er 1937 verhaftet worden war, diesen Schmerz hat Aitmatow bis zu seinem Tod 2008 in sich getragen. 1986, als „Der Richtplatz“ entstand, wusste er noch nicht, wie er gestorben und wo er begraben war.

Wenn Awdij im Seminar davon las, wie Christus verraten wurde, wie sie „Ihn an jenem heißen Tag auf dem Kahlen Berg kreuzigten“, waren ihm immer wieder die Tränen gekommen. „Ob es nicht auf Erden ein Gesetz gibt, wonach die Welt ihre Söhne mit den reinsten Ideen und dem aufrüttelndsten Geist am meisten bestraft?“ Darüber hat er mit seinem geistlichen Lehrer gesprochen, bevor er das Seminar verließ: Ob „die traditionellen Religionen heute nicht hoffnungslos veraltet“ seien, ob man nicht eine „neue, zeitgemäße Form Gottes suchen“ müsse. Dass Gott nicht „spekulativ ausgedacht werden könne“, bekommt er zur Antwort. „Begreife doch, hätte man Christus nicht gekreuzigt, wäre Er nicht Gott, der Herr“, denn „zunächst wurde er von den Menschen bestialisch getötet, hinterher emporgehoben, besungen, beweint … Also denk mal nach, was ist stärker, mächtiger anziehender und näher: der Märtyrergott, der auf den Richtblock geht, um der Idee willen Kreuzesqualen auf sich nimmt, oder das vollkommene, höchste, meinetwegen auch modern denkende Wesen, dieses abstrakte Ideal?“

Dass die Kirche sich aus dem „Joch des Dogmatismus befreien“ müsse, bezog ich bei früherem Lesen ebenso auf jenen ideologischen Dogmatismus, der in der Regierungszeit Gorbatschows zu bröckeln begann. Heute verstehe ich: Hier zeigt sich auch das Ringen Aitmatows um ein Verständnis von Religion – weg vom platten Atheismus, aber wohin? Was lange nicht bekannt war: Aitmatows Mutter stammte aus einer aristokratischen tatarischen Familie, war hochgebildet und muslimisch erzogen. Nach der Oktoberrevolution wurde die schöne Nagima mit flammenden Reden gegen die Unterdrückung der Frau Funktionärin des Komsomol und lernte bei einem Lehrgang Torekul Aitmatow kennen. Tschingis, 1928 in einer Lehmhütte bei Torekuls Familie in Scheker geboren, war zwar die meiste Zeit bei den Eltern, wo sie gerade eingesetzt waren, aber besonders eindrücklich blieb ihm in Erinnerung, wie er mit den Verwandten auf die Sommerweide zog, umgeben von Mythen und Märchen, die ihm die Großmutter erzählte und dem Tengrismus, der alten Religion der Nomadenvölker: Der Mensch lebt zwischen dem Herrn des blauen Himmels und der Mutter Erde. Verliert er seine Balance, braucht er schamanische Heilung.

Naturmystik, auf selbstverständliche Weise eingeatmet. Ein religiöses Grundgefühl als Ausgangspunkt seines Suchens. Die Mutter hatte einen Koran im Haus. Für den Buddhismus interessierte er sich und für die universalistische Religion der Bahai. Was ihn in Bezug auf die Bibel umtrieb war, wie man im Roman „Der Richtplatz“ sehen kann, der Märtyrertod Christi, die Verpflichtung, die daraus für uns Menschen erwächst. Kann man Drogenhändler bekehren? Sie werfen Awdij aus dem fahrenden Zug, und er ist ohnmächtig beim Gespräch zwischen Jesus und Pontius Pilatus dabei – Verteidigung des Glaubens gegen Machtpolitik über 40 Seiten im Roman. Sodann träumt er, wie er durch Jerusalem irrt, seinen „Meister“ rufend, um ihn zu retten. Wieviel aktuelle Verzweiflung steckt in diesem Text: „Und falls Er beschlösse, ein zweites Mal unsere Sünden  auf sich zu nehmen und ans Kreuz zu gehen, dann würde Er schwerlich die Seelen der Menschen anrühren, die aggressive Religion der überlegenen Militärstärke hält sie versklavt …“

Und dennoch glauben. „Alles ist im Wort.“ – Aus Aitmatows Mund klang das fest, ja feierlich. „Ich stehe vor Gott und vor mir selbst im Wort für uns alle“, sagt Awdij.  „Der Tod ist machtlos vor dem Geist“, so Jesus gegenüber Pontius Pilatus. „In den Menschen kehre ich wieder durch meine Leiden, in den Menschen komme ich zu den Menschen zurück“.

Tschingis Aitmatow: Der Richtplatz. Aus dem Russischen von Friedrich Hitzer. Unionsverlag, 460 S., br., 12,90 €.

Irmtraud Gutschke beschäftigt sich schon seit ihrer Studienzeit mit dem Werk Tschingis Aitmatows,  hat über sein Schaffen promoviert, ist immer wieder mit ihm im Gespräch gewesen und veröffentlichte u.a. das Buch „Das Versprechen der Kraniche. Reisen in Aitmatows Welt“. Vom 21. bis 31. Mai 2023 wird sie wieder eine Reise nach Kirgistan auf den Spuren von Tschingis Aitmatow begleiten.

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