Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Garcia Marquez: Wir sehen uns im August

Insel der Versuchung

Gabriel García Márquez: Sein letztes Werk ist ein Lesevergnügen

„Dieses Buch taugt nichts. Es muss vernichtet werden“ –, wer nicht  missgelaunt an die Lektüre geht (manche Kritiker sind‘s wohl von Berufs wegen), muss Gabriel García Márquez widersprechen. Ein vergnüglicher kleiner Roman. Gewiss, der große gesellschaftliche Zusammenhang fehlt. Aber ist der denn obligatorisch? Was für ein Glück, dass Rodrigo und Gonzalo García nicht auf den Vater hörten, das Manuskript erstmal beiseitelegten und es nun mit Hilfe des Freundes Cristóbal Pera herausgaben – als  letztes Werk des weltberühmten Kolumbianers zum zehnten Todestages am 17. April.

Erzählt wird von einer Frau Mitte, Ende Vierzig, die jedes Jahr am 16. August auf jene Karibikinsel fährt, wo ihre Mutter begraben werden wollte. Stets nächtigt sie im gleichen Hotel, und die Händlerin, bei der sie einen Strauß Gladiolen kauft, ist eine gute Bekannte. Ana Magdalena Bach – lediglich ein „n“ unterscheidet sie von der zweiten Ehefrau des berühmten Komponisten: Wie beifällig García Márquez sie beobachtet, so selbstbewusst, sinnlich, sehnsuchtsvoll sie ist. Sie nennt ihre Ehe glücklich. Ihr Mann ist als Dirigent berühmt, ihr Sohn als Cellist. Die 18-jährige Tochter spielt mit „Leichtigkeit jedwedes Instrument nach dem Gehör“, hat eine „fröhliche Liebschaft mit einem hervorragenden Jazztrompeter“ und will „in den Orden der Unbeschuhten Karmelitinnen eintreten“.

Alle leben sie ihr eigenes Leben. Ana ist wohl auf der Suche nach diesem Besonderen, ohne es zu wissen. Die Bolero-Version von Debussys „Clair de Lune“ erklingt (überhaupt ist der ganze Roman durchströmt von Musik), und die immer noch schöne Frau lässt sich gern zum Tanz auffordern.

Von sich selbst überrascht ist sie, als sie einen fremden Mann mit auf ihr Zimmer nimmt. Was für eine Beleidigung, dass er ihr einen Geldschein hinterlässt. Nun wird sie zur Jägerin. Jedes Jahr im August  ein Abenteuer. Sie ist ja immer nur eine Nacht auf der Insel. Es entbehrt nicht der Komik, wie sie unter Erfolgsdruck steht. Ana kann ja nicht voraussehen, wen sie erobern würde und ob es nicht enttäuschend wäre. Der bejahrte Autor ist von ihr amüsiert –  Selbstironie ist auch dabei im Wissen um den bitteren Beigeschmack solcher Eskapaden. Auch wenn sie diesen Augusttagen entgegenfiebert, so richtig zufrieden ist Ana nicht – und sie fragt sich nun, ob ihr Mann ebenso untreu sein könnte …

So viel Freude ihm das Schreiben machte, García Márquez quälte sich lange mit dem Gedanken, wie er den Text enden lassen sollte. Was ihm schließlich gelang, ist so faszinierend furios, wie es zum Meister des magischen Realismus passt. Mehr sei nicht verraten als das: Ana Magdalena verlässt ihre Insel der Versuchung mit einem Sack voller Knochen … Ein für alle Mal.

Wie quälend der langsame Gedächtnisverlust für den Literaturnobelpreisträger war! An die dreißig Romane und Erzählungsbände – was er später schrieb, würde an Früherem gemessen werden. „Hundert Jahre Einsamkeit“ und „Die Liebe in Zeiten der Cholera“ waren nicht zu übertreffen. Aber er konnte doch nicht aufhören zu schreiben. Die fünf nummerierten Rohfassungen dieses Romans hat Cristóbal Pera für diese Publikation verglichen, „jedes Wort, das getilgt oder verändert wurde, hin und her gewendet“. Wie er sich vorstellte, „dass Gabo mir über die Schulter sah“, können wir ihm glauben.

Gabriel García Márquez: Wir sehen uns im August. Roman. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Kiepenheuer & Witsch, 141 S., geb., 23 €.

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