Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

GEORge Orwell: 1984

Das Trauma eines Sozialisten

George Orwells „1984“, übersetzt von Lutz-W. Wolff

Von Irmtraud Gutschke

Fast zeitgleich kamen drei Neuübersetzungen von George Orwells Roman „1984“ auf den Markt: eine dicke bibliophile Ausgabe von S. Fischer, eine kompakte, preisgünstigere von Insel und eine aus dem Deutschen Taschenbuch Verlag, die gewissermaßen zwischen beiden angesiedelt ist. Die Neuübersetzung von Lutz-W. Wolff wird flankiert von mehreren Textbeiträgen: einem Vorwort von Robert Habeck, einem Nachwort des Übersetzers, einem ausführlichen Anmerkungsapparat sowie einer biographischen Zeittafel. Das ist ein großer Vorzug, weil man das Werk auf diese Weise mit der Situation des Autors in Zusammenhang bringen kann.  

George Orwell – es war ein Pseudonym, eigentlich hieß er Eric Arthur Blair– schrieb den Roman, als er schon sehr krank war. Das Erscheinen konnte er nicht feiern; als Tuberkulosepatient lag er im Krankenhaus. Manche werden es nicht wissen: Der Mann war in seinem Herzen Sozialist, die Erfahrungen seines Lebens, beginnend mit dem Polizeidienst in Burma, brachten ihn dazu, den Imperialismus abzulehnen. Aber als einzige Alternative gab es nur die stalinistische Sowjetunion.

Als Soldat im spanischen Bürgerkrieg an der Seite der undogmatisch-marxistischen Bewegung P.O.U.M. erlebte er deren Verbot und Säuberungen im stalinistischen Stil. Eigentlich wollte er den Internationalen Brigaden beitreten, doch er erlebte, wie Kommunisten die Anarchisten verfolgten. Einer seiner Kameraden wird von ihnen zu Tode geprügelt. Das kann er nie mehr vergessen. Interessant ist, welche heftigen Reaktionen der Roman schon 1949 bei seinem Erscheinen auslöste.  Stellte sich der Autor etwa vor, dass England oder den USA ein solches diktatorisches Regime drohen würde? Da verwies der Autor auf den parodistischen Charakter seines Textes. Als Parodie kann man den Roman wohl kaum verstehen.

Beim erneuten Lesen habe er „überhaupt nicht mehr an 1933-1945, an die DDR oder Sowjetrussland gedacht“, schreibt der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck im Vorwort. Ich dachte nur noch an unsere Zeit, unsere unmittelbare Gegenwart. Und das liegt an der von Orwell messerscharf vorgeführten Analyse, wie Sprache manipuliert werden kann. Wie Geschichte umgedeutet werden kann. Wie der Gesellschaft ein festes Wertefundament entzogen wird, sodass am Ende nur noch Angst und totale Unterwerfung übrigbleiben.“

George Orwell: 1984. Übersetzt und mit einem Nachwort von Lutz-W. Wolff sowie mit einem Vorwort von Robert Habeck. Deutscher Taschenbuch Verlag, 415 S., geb., 24 €.

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