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Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

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George Orwell: Reise durch Ruinen

„Rache ist sauer“

Von Irmtraud Gutschke

Aus diesem schmalen Buch erfährt man mehr über das Ende des Zweiten Weltkrieges als aus manchem dicken Wälzer. Wobei es hier eben nicht nur um das „Erfahren“ geht, sondern vor allem auch um das Erleben und Durchdenken. Als der britische Schriftsteller George Orwell 1945 im Auftrag des „Observer“ durch Deutschland reiste, hatte er bereits „Farm der Tiere“ veröffentlicht, doch ein Welterfolg mit dem Roman „1985“ stand noch bevor. Was an seinen Reportagen frappiert, ist sein unbestechlicher Blick „von oben“. Er schaut sich dieses zerstörte Deutschland an und überlegt, wie es weitergehen soll. Nach all den verbrechen, die schließlich von Deutschland ausgegangen sind, ist er ist ohne Feindseligkeit.

Unter den vielen eindrucksvollen Reportagen in diesem band rührt mich „Rache ist sauer“ vom 9. November 1945 besonders an. Höhepunkt ist eine Szene aus einem Kriegsgefangenenlager in Süddeutschland. Ein kleiner Wiener Jude führt den Reporter herum bis zu einem Hangar, wo SS-Offiziere auf dem nackten Zementboden lagen. Einem von ihnen, halb verhungert, abgerissen und mit scheußlich geschwollenen Füßen versetzt der Mann „mit seinem schweren Stiefel einen furchtbaren Tritt in en geschwollenen Knöchel“. Wenn es ein Nazi-Folterknecht gewesen war, überlegt Orwell, so war er doch inzwischen zu einem „kläglichen Wicht“ geschrumpft, und er fragte sich, ob der junge Jude „eigentlich wirkliche Befriedigung aus der Tatsache zog, dass er hier macht ausüben konnte.“ Und wenn die ganze Familie des Jungen von den Nazis ausgelöscht worden ist? Dann wäre doch sein Fußtritt eine Kleinigkeit. „Aber was diese Szene und manches andere, was ich in Deutschland gesehen habe, mir klarmachte, war die Tatsache, dass die ganze Vorstellung von Rache und Bestrafung nur ein kindischer Tagtraum ist … Rache ist etwas, das man sich vorstellt, wenn man ohnmächtig ist.“

Aber kann es nicht sein, dass das Gefühl der Ohnmacht bleibt, auch wenn der Feind am Boden liegt, überlege ich, dass vom Besiegten doch noch eine unterschwellige Bedrohung ausgeht und Gewalt verhindern soll, dass er sich je wieder aufrichtet? Kann die Vergeltung so einfach gestrichen werden aus der staatlichen Ordnung? Ist die Lust darin nicht doch eine Kompensation für erlittenes Leid? Und wenn sie Selbstzweck ist? Wenn mir selber selbst der Gedanke an Rache fremd ist, kann ich das denn als Maxime setzen?

George Orwell begegnet uns wie ein Mensch von einem anderen, friedlichen Platen oder wie aus Sarastros Tempel, der ja in der „Zauberflöte“ besungen wird. Dass man dort dem Feind vergibt, erscheint ja wie eine große Stärke, wie die Zukunftsvision einer humanen Ordnung. Das Ausmaß der Zerstörungen gerade durch angloamerikanische Luftangriffe erschreckt ihn. „In Deutschland ist jede Großstadt, die in Reichweite der britischen und amerikanischen Bomber lag, in einer Art und Weise zerstört worden, die wir uns in England gar nicht vorstellen können, obwohl wir selbst schreckliche Bombenangriffe erlebt haben.“ Die deutsche Schuld steht für ihn in einem Maße außer Frage, dass er sich fern der Verpflichtung fühlt, sie auf Schritt und Tritt hervorzuheben. Schon 1945 zieht er einen Schlussstrich unter den Krieg und fragt sich, wie es nach all den Zerstörungen nun weitergehen soll. Ihn beschäftigt das Problem der befreiten Zwangsarbeiter, die in Lagern für „Displaced Persons“ untergebracht waren. Sind es sieben Millionen, zehn oder zwölf? Er fragt sich sogar, wie die Deutschen ohne diese Leute die Ernte einbringen werden.

Überhaupt die Deutschen: Es wundert ihn, wie schnell sie den Krieg in die Vergangenheit verbannten, wie sie zur Tagesordnung übergingen und vor den Besatzungsmächten buckelten. Wobei die Angst vor en Franzosen und besonders vor den Russen groß war. Denn insgeheim wussten sie, was ihre Truppen im Osten im Osten angerichtet hatten. Weil dort die Verheerungen aber besonders groß waren, meint Orwell, sollten „die beiden Länder, die vom Krieg am wenigsten zerstört worden sind – also die Vereinigten Staaten und Großbritannien – ihre ganze Kraft aufwenden…, um die Welt wieder in Stand zu setzen.

Was für eine Utopie! Wobei Orwell grundsätzlich einem Großmachtdenken anhängt. Kleine Nationen, das habe der Krieg gezeigt, können sich allein vor einem Angriff von außen nicht schützen. Deshalb plädiert er in aller Offenheit für eine Einheit der Welt in Einflusszonen der Großmächte, was ja in Wirklichkeit auch geschehen ist, nur dass die Machtverteilung aus westlicher Sicht möglichst zu Ungunsten der Sowjetunion und später Russlands erfolgen sollte. „Die Wahl besteht heut zwischen einer Organisation, welche die ganze Welt umfasst, und dem Überleben von zwei oder drei Superstaaten, die sich mehr oder weniger feindselig gegenüberstehen.“

George Orwell: Reise durch Ruinen. Reportagen aus Deutschland und Österreich 1945. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. Mit einem Nachwort von Volker Ullrich. C. H. Beck textura, 110 S., geb., 16 €.

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