Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Gusel Jachina: Wo vielleicht das Leben wartet

„Weil doch jeder irgendwie Mensch bleiben muss…“

Gusel Jachina: Ihr neuer faszinierender Roman spielt vor dem Hintergrund der Hungerkatastrophe im Wolgagebiet

Irmtraud Gutschke

Wie aus einem dermaßen harten Material ein so faszinierend glänzendes Gewebe werden konnte, man staunt. Die 591 Seiten möchte man verschlingen, ohne das Buch beiseitezulegen. So gebannt ist man von dem, was man sieht. Ja, sieht: Denn das war schon immer das Talent von Gusel Jachina: lebendige Szenen vor unseren Augen erstehen zu lassen. Die Vorstellungen, wie sie beim Lesen ohnehin entstehen, werden bei ihr auf eine geheimnisvolle Weise verstärkt. Wahrscheinlich, indem sie selber beim Schreiben von Bildern ausgeht, vor ihrem inneren Auge sozusagen einen Film ablaufen lässt, den sie dann in Worte fasst. Die 1977 in Kasan geborene Schriftstellerin hat ja auch die Moskauer Filmhochschule absolviert.

Ihr großes Romandebüt „Suleika öffnet die Augen“ über die Deportation einer 15-jährigen Tatarin nach Sibirien 1930 (2017 für den Aufbau Verlag ebenfalls von Helmut Ettinger übersetzt) ist in Russland zu einer achtteiligen Fernsehserie geworden und wurde in 31 Sprachen übersetzt. Ihr zweiter Roman, „Wolgakinder“ von 2018, über das tragische Schicksal der Wolgadeutschen fand laut Verlag Verbreitung in 14 Sprachen. Und für das neue Buch, im Original 2021 in Moskau erschienen, sind schon 19 Übersetzungen angekündigt. Die Autorin weiß ganz offensichtlich, wie man Bestseller schreibt. Neider werfen ihr das auch vor, doch was das Publikum bei ihr findet, ist nicht nur die erwähnte szenische Sprache, sondern auch künstlerischer Mut.

Sie nimmt sich brisante Themen vor, über die jüngere Leute vielleicht schon nichts mehr wissen, ältere aber umso mehr. Die aber sprechen oft nicht gern darüber, weil es bittere Familienerinnerungen sind, die sich angstvoll in die Seelen gefressen haben. Dunkle Seiten der sowjetischen Geschichte, die dem Staat nicht zur Ehre gereichen, die auch Munition waren im Kalten Krieg: In vorliegendem Roman geht es um die Hungersnot in den 20er Jahren, die überall in der Sowjetunion, insbesondere auch in der Wolgaregion wütete, wo fünf Millionen Menschen zu Tode gekommen sein sollen. Von den Ursachen – Folgen des Bürgerkriegs, Umstrukturierung der Landwirtschaft, Kriegskommunismus, Requirierung auch des Saatgetreides bei den hungernden Bauern für die Städte, Transportprobleme – erfährt man im Hintergrund. Doch dies ist kein Sachbuch, sondern ein mitreißender Roman, ein Hohelied auf Tatkraft und Menschlichkeit.

Reichlich drei Seiten gelten am Schluss den Quellen, auf die sich die Autorin stützte. Insbesondere die Erinnerungen von Assja Dawydowna Kalinina über die Rettung und Unterbringung verwahrloster Kinder seien ihr für die Gestalt der Kinderkommissarin Belaja im Roman zugutegekommen, schreibt sie. Während der Hungersnot 1920-1923 hat Kalinina in Tschuwaschien Essensausgaben eröffnet und 5744 hungernde Kinder nach Moskau evakuiert.

Im Roman soll im Oktober 1923 ein Zug über 4200 Kilometer von Kasan nach Samarkand fahren, wo der Hunger vielleicht nicht so schlimm ist, „wo vielleicht das Leben wartet“. Er wird befehligt von einem noch jungen Mann. Dejew, ein ehemaliger Rotarmist, muss erst die Wagen und das Personal zusammensuchen. Er bekommt einen Waggon der ersten Klasse mit Salonabteilen und mehrere total verdreckte dritter Klasse, eine „Kirche auf Rädern“ mit bronzefarbener Kuppel und eine Bretterbude als Küche – allerdings nur Proviant für drei Tage, was er seiner Begleiterin – Belaja von der „Kinderkommission“ – nicht verrät. Die hätte ohnehin lieber weniger Kinder mitgenommen, vor allem keine schwachen, kranken, die sie am Ende womöglich nicht retten kann. Aber als Dejew die Zustände im Kasaner Kinderheim sieht, kann er nicht anders: Er nimmt sogar Kranke mit, und es kommt zum Streit.

Doch ist es nicht einfach nur so, dass er ein weiches Gemüt hat und sie nur hart rational zu urteilen versteht. Sie haben beide verschiedene Seiten, was auch mit ihren Vorgeschichten zusammenhängt. Wir warten nicht vergeblich darauf, dass sie für einen Moment zusammenfinden, aber sie werden sich in den Haaren liegen bis zum Schluss. Eine grundsätzliche Frage durchzieht den Roman: Was wiegt das einzelne Menschenleben in der Masse? Wer ist befugt, über das Leben anderer zu entscheiden? Weil wir im Frieden leben, fanden wir den Begriff „Triage“ in Corona-Zeiten abscheulich. Intensivmedizinische Betreuung zuerst für Patienten mit den besten Genesungschancen: Und die anderen? Dabei ist bei mangelnden Ressourcen solcherart Sortierung gang und gäbe. Und in der im Roman beschriebenen Situation ist der Mangel dermaßen schlimm, dass es tatsächlich nicht für alle reicht.

Es ist eine Heldengeschichte, denn Dejew gelingt es immer wieder, inmitten allgemeiner Not Hilfe zu finden, wo eigentlich keinerlei Hilfe zu erwarten wäre. Was für Szenen! Da sehen wir ihn nachts ins Gebäude der allmächtigen Tscheka eindringen­, wo ihn Kugeln und Alkohol empfangen. Mit der Parole „9. März“, hinter der sich ein schreckliches Massaker verbirgt, kommt er in die streng bewachte Sammelstelle für requirierte Lebensmittel hinein und unter Lebensgefahr mit einem in seinem Beisein geborenen Kalb wieder heraus. Zum ersten Mal lese ich den Begriff „Prodarmija“ für die bewaffneten Beschaffungstruppen, denen Menschenleben weniger wert waren als ihr Ablieferungssoll. Die unglaubliche Härte der damaligen Zeit, man kann sie sich ja kaum vorstellen und versteht unwillkürlich auch diejenigen, die sich der neuen Macht widersetzten.

Aber erstaunlich ist es doch, wie ein weißgardistischer Kosakenataman dem Rotarmisten Dejew Hilfe verspricht – unter der Bedingung, dass der ihm im Kirchenwagen (der inzwischen ein Lazarett ist) zu beten erlaubt. Eine heilige Messe wird zelebriert, umgeben von cholerakranken Kindern. Aber das größte Wunder findet wahrscheinlich in der mittelasiatischen Wüste statt. Von den Basmatschen, ihren Methoden und Zielen werden viele hierzulande noch nichts gehört haben, beim Lesen aber durchaus an gegenwärtige Konflikte denken. Wo liegt das Gute, wo das Böse? Von reiner Güte könne man wohl träumen, sagt Dejew, der, wie sich zeigt, mit persönlicher Schuld auch seine Erfahrungen hat, „aber die Güte, die uns umgibt … ist krumm und schief, so schmutzig wie unsere vom Kuhmist verschmierten Schuhe. Sie wird mit befleckten Händen getan, die einst gestohlen oder gar getötet haben“, während alle von der „unerreichbaren reinen Güte träumen“.

Wie er durch die schwierigsten Situationen taumelt, ein Neugeborenes aufnimmt, für das es keine Milch gibt, und einen Jungen, der nicht spricht, ihm aber wie ein Hund am Bein hängt – ein ganzes beklemmendes Kapitel gilt Sagrejkas verschwiegener Geschichte –, wie er Gräber aushebt, Kranken die Nahrung vorkaut. Wie die Kinder, für kurze Zeit satt, auf den Wagondächern sitzen und singen „Leben werden wir und nicht ste-e-erben“. Wie gesagt, man sieht das alles. Sieht den massigen alten Feldscher Bug vor sich, den Koch Memelja, der kaum Russisch spricht, und die verschiedenen Pflegerinnen ohne Erfahrung –­ eine Popenfrau, eine Bibliothekarin, eine Bäuerin und eine Ichthyologin –, hört die zarte Fatima nachts wundersame Lieder singen, während sie die Kinder wiegt, die sie alle Iskander nennt. Was immer man sich an widersprechenden Stimmungen denken kann, greift nach einem in wechselnder Szenerie.

Jedem einzelnen der 500 Kinder möchte Gusel Jachina Ehre erweisen. Deshalb nimmt sie sich gegen Schluss fast fünf Seiten für ihre Spitznamen, in denen ihre elende Vergangenheit steckt: Eingerosteter Professor, Eiserner Pip, Petka Pompadour, Schafsknottel, Kalte Vera, Schlampige Sulja, Matratze Schanka, Kloakensäufer Fima …  Allein die gereimte Kraftmeierei der Straßenkinder, ihre Sprache, für die es im Deutschen oft keine Entsprechung gibt  – überhaupt wie großartig kam der Übersetzer Helmut Ettinger mit den Herausforderungen dieses vielschichtigen Textes zurecht.

Diese Kinder hatten ihre Eltern und überhaupt jeden Schutz verloren,  sie hatten Schlimmstes durchgemacht. Verwahrlost, hungrig, verlaust, zerlumpt waren sie in den Zug gestiegen, und wir erleben kein „pädagogisches Poem“ wie in Makarenkos berühmtem Roman „Der Weg ins Leben“ mit Kollektiverziehung, Selbstverwaltung und nützlicher Arbeit. Erst einmal müssen sie vorm Tod gerettet werden bis die 500 splitternackt vor dem Kinderheim in Samarkand stehen. Warum hat Dejew ihre Unterhemden kurz vor der Ankunft aus einem Fenster des fahrenden Zuges geworfen? Etwas musste er vertuschen … Und wieder gelingt ihm das Unmögliche, „weil doch jeder irgendwie Mensch bleiben muss – auch in diesem alles verschlingenden Chaos“. Wie eine Beschwörung klingt der Satz in uns nach.

Gusel Jachina: Wo vielleicht das Leben wartet. Roman. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Aufbau Verlag, 591 S., geb., 26 €.

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