Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder

„Literatur und Leben sind zweierlei“

Ingo Schulze geht einfachen Deutungen seines Romans aus dem Weg

„Wie wird ein aufrechter Büchermensch zum Reaktionär – oder zum Revoluzzer? Eine aufwühlende Geschichte über uns alle.“ Dem Verlag sei’s zugutegehalten: Klappentexte müssen werbend sein und können nicht jeder Wendung eines Buches folgen, zumal hier nicht einmal alles zutage tritt. Ingo Schulze mag wohl zu Beginn eine Geschichte im Auge gehabt haben, die auf einen großen „Wenderoman“ zusteuerte, doch irgendwann – vermute ich – war ihm nicht wohl dabei. Zu gut passte alles zusammen. Er hätte sich schon die lobenden Rezensionen vorstellen können, die Debatten auch. Es ist ja alles ziemlich vorhersehbar im öffentlichen Meinungsbetrieb. Ich stelle mir vor, irgendwann ist ihm das auf eine Pointe hin Erzählte nicht stimmig erschienen, zumal es jenen „aufrechten Büchermenschen“ in Wirklichkeit gegeben haben könnte, von dem er sich inspirieren ließ. Norbert Paulini hieß er natürlich nicht. Auch das autobiographisch grundierte Ich im Roman trägt eine Maske, heißt Schultze, ist aber ebenso wie Ingo Schulze auf die Dresdner Kreuzschule gegangen und hat dann Klassische Philologie studiert.

Am Schluss wird die Vermutung ausgesprochen, dieser Schultze könnte ein Mörder sein. Aus Eifersucht vielleicht. Oder hat Paulini seine Freundin aus eben diesem Grunde vom Felsen gestürzt und danach sich selbst? Aber warum heißt es dann „Die rechtschaffenen Mörder“? Ich blättere zurück. Nein, für einen „Tatort“-Krimi hat der Roman zu viel Tiefgang. „Alles rechtschaffene Menschen“, sagt Juso Livnjak zu der Verlagslektorin, der die Sache keine Ruhe lässt. Dass Livnjak, Paulinis Gehilfe, Bosnier ist, auf Handschriften spezialisiert, ist Fiktion. Dass die berühmte Bibliothek in Sarajewo, wo er arbeitete, am 25. August 1992 mit Phosphorgranaten beschossen wurde, wobei mehr als zwei Millionen Bücher und Dokumente verbrannten, entspricht den Tatsachen.

„Schriftsteller dürfen lügen!“, sagt Livnjak. Vorher hatte Paulini in einem letzten Gespräch Schultze ermahnt, dass Literatur Eindeutigkeiten nicht mag. „Literatur und Leben sind zweierlei.“

Schultze im Roman ist in diesem Widerspruch gefangen. „Ich hatte diesem Dresdner ein Denkmal setzen wollen“, gesteht er uns, „den Westlern zeigen, wo wahre Bildung lebte und nebenbei auch meine Herkunft adeln. Ich hatte uns Ostlern die eigene Geschichte bewusst machen wollen. Aber ich hatte Paulini verkannt…“ Dass der Staat Migranten hilft, ihn aber in misslicher Lage alleine lässt – ein Ausbruch von Frust, und er ist gleich ein Reaktionär? Obwohl er zwei Bosnier bei sich aufgenommen hat, die nun sein Antiquariat führen. Ingo Schulze macht es sich mit einem Urteil nicht so leicht. Der Roman – wieder bin ich bei meinen Vorstellungen (als Rezensentin muss ich mir doch einen Reim darauf machen) – scheint mir eine schwierige Geburt gewesen zu sein. Was hätte verdeutlicht werden können wird absichtsvoll im Vagen gelassen. „Wer schreibe und dabei schon an die Öffentlichkeit denke, sei ein König Midas, der alles, was er anschaue oder berühre, erstarren und absterben lassen würde, auch wenn er damit Geld scheffelte“, sagt Lisa, die offenbar zugleich Paulini und Schultze anhänglich ist.

Ingo Schulze hat schillernde Figuren geschaffen, die man gerade deshalb nicht vergisst. Und wenn Schultze im Roman auch sein Vorhaben verwirft, aus dem leidenschaftlichen Antiquar lediglich einen standhaften Zinnsoldaten zu machen, der nach 1990 erleben muss, dass ihm die Leser schwinden, so bleibt es doch wahr. „Niemand interessierte sich für Hans Henny Jahnn.“ Es stimmt doch: Was uns einst leuchtende literarische Entdeckung war und es mittels Bildung für die Vielen werden sollte, ist abgedrängt, bestenfalls ins Elitäre. Begraben unter lauter bunter Knete. „Was unsere Welt einmal ausgemacht hatte und was jetzt erbarmungslos unter die Räder kam“, es verdiente doch, beschrieben zu werden. Und wie immer Schultze daran verzweifelt, Schulze bringt es uns schwarz auf weiß vor Augen.

Irmtraud Gutschke

Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder. Roman. S. Fischer Verlag, 318 S., geb., 21 €.

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