Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Jörn van Hall: Du stirbst im Fliegen

„Du warst die Königin der Nacht und die Olympia“

„Du stirbst im Fliegen“ von Jörn van Hall, eine Erzählung, in der viel verdichtet ist

Irmtraud Gutschke

Eine Erzählung von nicht mal 120 Seiten – doch birgt sie nicht eigentlich einen Roman? Mehrere Handlungslinien, punktiert gleichsam,  überkreuzen und verflechten sich bis zu einem Schluss, den man so nicht erwartet hätte. Denn es hätte eine erbaulich heitere Geschichte werden können, wie ein junger Mann aus Iran bei einer Frau einzieht, die mit ihrer Demenz zu kämpfen hat. Nach dem Muster von „Ziemlich beste Freunde“, zumal es sich um zwei ganz besondere Menschen handelt. Helene war eine berühmte Opernsängerin. „Du warst die Königin der Nacht und die Olympia.“ Nun ist sie achtzig und es schmerzt sie die Einsicht, dass sie daran nicht anknüpfen kann, dass sie die Haltung verliert. Mourad stammt aus dem Iran. Das Kindermädchen hat ihm Deutsch beigebracht, auch hatte er eine Zeitlang in Wien gelebt, wo sein Vater ein kleiner Botschaftsangestellter war. Der Beamte in der Einwanderungsbehörde versteht nicht, weshalb der junge Mann aus seiner Heimat weg musste. Dass Mourad als Schwuler Gefängnis oder gar die Todesstrafe zu befürchten hatte, geht ihm nicht wirklich in den Kopf. Dass er auch hier mit einem Mann zusammenlebt, dafür will er Beweise. Und am Schluss …

Szenen aus dem Flüchtlingsheim, wo Mourad angefeindet wird, Szenen mit Ole, Helenes Sohn – viel Andeutungen, die man sich selber ausmalen kann, muss. Und da gibt es auch noch die Briefträgerin Irma, die Nachbarn Frithjoff und Maike, deren Vorgeschichten allein schon einen Roman hätten tragen können. Denn auch die Toten aus beiden Familien sind gleichsam mit anwesend und geben keine Ruhe. Eine vergrabene Zinkwanne unter dem Kompost und ein abgeschnittener Strick auf dem Dachboden. Die Geister der Vergangenheit scheinen ziemlich lebendig zu sein, im persönlichen wie allgemeinen Sinne. Verhohlene Fremdenfeindlichkeit allenthalben. Und überhaupt: Mourad „kann das Land nicht fassen, in dem er steht.“ Und Helene klebt heimlich Zettel an die Fotos, weil ihr die Namen entfallen. Sie nennt ihn Osmin wie in Mozarts Oper „Entführung aus dem Serail“. Wie schön, wenn wir sie Hand in Hand durch den Ort gehen sehen! Und einen Strand entlang, mit dem für Helene reizvolle Erinnerungen verbunden sind. Könnte sich ihr Gedächtnis vielleicht erholen bei so viel freundlicher Anteilnahme?

Wahrscheinlich ist die Hoffnungsader in mir sehr stark, dachte ich beim Lesen. Der Titel hätte mich warnen können. Auf dem Buchumschlag sieht man einen kleinen Vogel der auf dem Gitter seines Käfigs sitzt. Aber der Zaunkönig, von dem auf Seite 63 die Rede ist, soll eines Tages tot gelegen haben in seinem Käfig in Isfahan. Er hatte „sein Lied verloren. In der Fremde ist er zu sehr erfüllt vom Schmerz.“ Ich denke über den Buchtitel nach: „Du stirbst im Fliegen“. Erfüllt von Schaffenskraft, stellen sich ja viele vor, dass sie keinesfalls alt und schwach werden wollen, abhängig von fremder Hilfe. Soll man nicht die eigenen Freiheit behaupten, so lange man es noch kann? Diese Frage lese ich aus dem Buch heraus und erinnere mich an Hermann Kant, der mit einer Entzündung an seiner künstlichen Herzklappe beinahe gestorben wäre. Menschen gab es, die ihn retteten. „Und dabei hätte ich schon so schön tot sein können.“ Mit diesem Satz ließ er seine letzte Erzählung „Ein strenges Spiel“ beginnen und sagte es auch so, als ich ihn im Krankenhaus besuchte. Wenn du meinst, dass man im Himmel Fußballspiele gibt und dass nach dem Sterben überhaupt noch was interessantes kommt, wandte ich ein. Er lachte.

Jörn van Hall: Du stirbst im Fliegen. Erzählung. Quintus Verlag. 119 S., geb., 20 €.

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