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Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

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Katerina Poladjan: Zukunftsmusik

Mit Gorbatschow begannen die Träume

Katerina Poladjan erzählt von einem Tag, an dem sich für vier Menschen in der Sowjetunion alles verändert

Von Irmtraud Gutschke 

Die UdSSR gibt es seit über dreißig Jahren nicht mehr. Selbst die Klischees über die Sowjetunion, unendlich trist und grau, sind verblasst. Dass Katarina Poladjan für ihren neuen Roman ausgerechnet den Mikrokosmos einer Kommunalka ausleuchtet, „tausende Werst oder Meilen oder Kilometer östlich von Moskau“, ist auch deshalb interessant. Und anders als Alina Bronski, Olga Grjasnowa oder Sasha Marianna Salzmann, die in den 1990ern mit ihren Familien auswanderten und vom Dasein zwischen zwei Welten schreiben, lebt Poladjan schon seit 1979 in Deutschland. Ihr Mikrokosmos ist voll von bezaubernder Lakonie und Tchechowchem Witz, als wollte sie den Klischees etwas entgegensetzen, im Nachhinein eine Film in Farbe drehen. Für Zukunftsmusik wurde sie jüngst mit dem Leipziger Buchpreis nominiert.

Die Kommunalka, das war eine Gemeinschaftswohnung, die einem zugeteilt wurde und in der mehrere Familien je ein Zimmer hatten. Für die feine Situationskomik sorgen im Roman die Verwicklungen, die sich auf engem Raum ergeben, es keine Intimsphäre gibt und der übliche Schlagabtausch, wenn zum Beispiel die Hauptfigur Janka mal wieder nach der Nachtschicht in einer Glühlampenfabrik das Bad blockiert, schon eine liebe Routine geworden ist. 

Die Handlung umfasst nur einen Tag, wobei die Gestalten nicht ahnen, dass der 11. März 1985 eine Zäsur markiert. Im Radio erklingt Trauermusik. Der Tod von Konstantin Tschernenko, Staatsoberhaupt nicht mal ein Jahr, unterbricht die Routine nicht. Nur Matwej Alexandrowitsch, Parteimitglied, findet es unpassend, dass Janka am Abend ein Küchenkonzert geben will, und holt doch deren Tochter Kroschka vom Kindergarten ab.

Das Buch beginnt und endet mit Janka. Wie sie mit Kind, Mutter und Großmutter in einem durch Vorhänge geteilten Zimmer haust, wie sie in der Badewanne von einem anderem Leben träumt, sich an einen verliebten Sommertag erinnert.  

Wie uns die Autorin, ohne zu werten, in diese Zeit versetzt, indem sie den Charakteren in ihrem Umfeld ein Eigenleben gibt, lässt an Tschechow denken. Eine Kommunalka als Gleichnis für das Leben in der Sowjetunion: Dessen Widersprüchlichkeit von innen heraus, an einem Ort und einem Tag, vor Augen zu führen, ist ein Kunststück. Alltagsdetails, traurig und leuchtend zugleich – erst mit Abstand zur Lektüre fügen sie sich zu einem Mosaik. Alle im Roman haben sich irgendwie mit dem Bestehenden arrangiert. „Ein Scheißleben haben wir“, sagt Maria Nikolajewna oft, aber an diesem Morgen scheint es nicht so richtig zu passen, weshalb sie in der Küche mit Matwej Alexandrowitsch hinzufügt, dass ja die Birken schon anfangen zu blühen und immerhin – eben hat Alexandrowitsch sie an den Schultern gepackt und lauthals gesungen. Außerdem. Niemand muss Hunger leiden, es gibt ein Miteinander. Die todessehnsüchtige Großmutter Warja verliebt sich sogar noch einmal. 

Der Handlung stellt Katerina Poladjan ein Wort in kyrillischer Schrift voran: „играем“  – lasst uns spielen. Weil Gorbatschow mit seinem Amtsantritt am 11. März 1985 dem Land einen radikalen Umbau verordnete, durfte – nach dem Willen der Autorin  in der Kommunalka nichts bleiben wie vorher. Abrupt lässt sie die Handlung ins Surreale kippen. „Was ist das für ein Geräusch“, fragt Janka ihren Freund Pawel. „Das Haus wird abgerissen.“ Pawel öffnet ein Fenster und fliegt hinaus. Und sie findet im allgemeinen Durcheinander eine Tür, die sie noch nie bemerkt hatte. „Glücklich wie eine Genesende“ tritt sie in eine weite Landschaft. Und dann. Mit diesem Panorama endet der Roman.

Katerina Poladjan: Zukunftsmusik Roman. S. Fischer Verlag, 185 S., geb., 22 €.

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