Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Marica Bodrožić: Mystische Fauna

Auf dem Weg zur „Innensonne“

„Mystische Fauna“ von Marica Bodrožić ist die Geschichte einer Gesundung

 Irmtraud Gutschke

Was können Tiere von uns Menschen wissen? Und was wissen wir von ihnen? Wie gehen wir miteinander um? „Mystische Fauna“ von Marica Bodrožić ist ein stilles Buch voller bohrender Fragen. Ein scheint’s leichthin schwebender Text mit autobiographischer Grundierung, die sich, so man es zulässt, in die eigene Seele einschreibt.

„Das Dorf lag still in der Ebene. Die Kühe hatten mich erwartet, und ich sah nicht nur das, sondern auch, dass sie mich mit ihrem Körper sehr genau wahrnahmen. Sie lasen mich wie ein Buch und reagierten auf jede innere kleine Regung, auch auf jeden Gedanken, der in mir aufstieg … Die Blicke der Tiere zeugten von einer Unverstelltheit, die für mich bis heute das Unzerstörbare ist und nach der ich mich bei allen Begegnungen sehne …“ Als Kind hatte Marica Bodrožić die Kühe auf die Weide getrieben, aber auch zugesehen, wie sie geschlachtet wurden. „Die Blicke der sterbenden Tiere schnürten mir die Kehle zu.“ In diesem Bewusstsein hatte sie damals noch Fleisch gegessen, was sie heute nicht mehr kann.

Den Rahmen für diesen sehr persönlichen, poetischen Text bildet ein Aufenthalt auf der Insel La Gomera. Zu dem kleinen Feldsteinhaus, das Bodrožić während der Abwesenheit seiner Besitzerin zu hüten hat, gehört auch ein Hund, den sie Inselito nennt. In langen Spaziergängen mit ihm steigen fast vergessene Kindheitserinnerungen in ihr auf. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr hatte sie auf dem Bauernhof ihres Großvaters in Dalmatien gelebt. Wie ein Fremdkörper fühlte sie sich dort. So hat sie die Nähe der Tiere gesucht und deren Verletzungen in sich gespürt. Denn der Großvater konnte jähzornig sein. Dem Hofhund Chio hat er mit einem Stein ein Auge ausgeschlagen. Und seinen treuen Esel hat er in ein Karstloch gestürzt, nur weil er sich an einer Weinrebe gütlich getan hatte. Mit gebrochenen Gliedern ist das Tier verendet. Und das Mädchen ist sogar noch mitgelaufen, als es zur Hinrichtung geführt wurde, und konnte den Blick des Esels nicht vergessen. Als ob er alles ahnte. Sie war noch klein und wurde zur Komplizin von Gewalt. Und auch mit der Mutter, mit der sie später nach Deutschland lebte, war es nicht einfach. Was wohl war ihr angetan worden, was lebte sie in ihren Zornausbrüchen aus? Der Krieg, zwar kaum thematisiert, hat Spuren hinterlassen.

Das Wort „mystisch“ im Buchtitel steht für eine Welterfahrung, die Marica Bodrožić mit uns teilen möchte, für eine Wahrnehmung, in der alles miteinander verbunden ist. So wird La Gomera zum Ort „sphärischen Lernens“. In der Realität geschieht nicht viel, aber in ihrer Seele dringt die Ich-Erzählerin immer tiefer in ihren „Traumwald“ vor. Sie will aus einer inneren Beklemmung heraus, will die Grenzen des „kühlen Singular“ hinter sich lassen. Denn „die verflochtenen Beziehungen aller Lebewesen sind nie aus der Welt verschwunden, sie haben nur keinen Platz mehr in unserem Kopf“.

Das rational Erklärbare übersteigen, ohne irrational zu sein: Indem die Dichterin ihr Empfinden durchdenkt und Worte dafür sucht, macht sie uns das Geschenk einer Sprache, die, wohl Besonderes benennend, mitten im Alltäglichen leben kann. Die man lesend als Geschenk empfindet.

„Mystische Fauna“ ist die Geschichte einer Gesundung. Während die Ich-Erzählerin die Schmerzen ihrer Kindheit wieder an sich heranlässt, kommt sie zu sich selbst. Kommt zur Ruhe, die sich beim Lesen überträgt. „Die Tiere ließen keine Verdrängung mehr zu, sie sorgten dafür, dass ich wieder zu mir zurückkehrte, zurück zu meinen Gefühlen, zurück zur Sprache, zurück zu meiner Sehnsucht nah Erdung.“ Sie wird gewahr, dass nichts ihr mehr anhaben kann, weil in ihr etwas Unauslöschliches lebt. Eine „Innensonne“, die „uns auch im Vergessen mit allem Lebendigen verbindet“.

So steckt in diesem Buch ein großer poetisch-philosophischer Entwurf, in dem auch immer wieder Lektüreerfahrungen aufblitzen – vom Gilgamensch-Epos bis zu Heiner Müller, von Else Lasker-Schüler zurück zu Theresa von Avila und dann wieder bis Walter Benjamin. Eine emphatische Erfahrung nimmt die Autorin dann mit in ihr Haus in Mecklenburg. „Ich habe das Bedürfnis, mit einem Wald zu verbinden, mich mit dem Moosgrün zu unterhalten, dem überirdischen Blau einer Kornblume, der Nässe des Regens, ich habe das Bedürfnis, mich mit Menschen zu umgeben, die diese Gnade des Eingewobenseins kennen …“ Was sie ihrer kleinen Tochter wünscht –  „ein Leben in Sanftmut und Freundlichkeit jenseits von Gewalt“ – gilt auch im universellen Sinne.

Marica Bodrožić: Mystische Fauna. Von der Liebe der Tiere. Verlag Matthes & Seitz, 164 S., geb.,  20 €.

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