Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Matthias Biskupek: Worte ohne Verfallsdatum

Entdeckung der „Wolke“
Ein Band für Matthias Biskupek

Irmtraud Gutschke

Einen „Morgenschreiber“ nennt ihn Landolf Scherzer, einen „Querkopf“ und einen „Geschichtskenner“. Auch den Antifaschist Matthias will er erwähnen, „der bei Demonstrationen gegen die ewig Gestrigen die Faust ballte und ‚Nazis raus! rief. Und wenn er ein begeisterter Radtourist war, der Seerosen bestaunte, so hat er sie hernach auch beschrieben, weil er sich ein Leben ohne Texte nicht vorstellen konnte. Über dreißig Bücher, seine Zeitungsartikel nicht zu zählen. Und weil seine Produktivität die Möglichkeiten der Drucklegung überstieg, hat er 2008 „die Wolke“ für sich entdeckt – ,für ein Online-Tagebuch.

Dass darin als Ortsmarke ab 2019 immer mal wieder „SLF OU“ zu lesen ist, was für die Saalfelder Onkologie steht, hat durchaus mit diesem Band zu tun, den Landolf Scherzer, Frank Quilitzsch und Martin Straub im Arnstädter THK-Verlag herausgegeben haben. Aus seinen über 3000 Online-Eintragungen haben sie eine Auswahl getroffen. Postum. Am 11. April 2021 ist Matthias Biskupek in Rudolstadt gestorben.

Zur Welt gekommen ist er 1950 in Chemnitz – wie ich auch. Ich fiel sofort ins Sächsische, wenn ich mit ihm sprach, und war auch sonst mit ihm auf einer Wellenlänge, was Bücher betraf und politische Fragen. Mit diesem Gefühl der Übereinstimmung lese ich jetzt auch sein letztes Buch, in dem er mir so authentisch offen gegenübertritt, wie er auch zu Lebzeiten war. Auf 14 Fotos blickt er einem verschmitzt lächelnd entgegen, besser gesagt, meist seiner Frau Sigrid in die Kamera. „Er war ein Mann mit Ecken und Kanten, ein Polemiker, der sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ“, schreibt Martin Straub, „und er wurde ‚kiebsch‘, wie der Sachse sagt, wenn es um die Abwertung der ostdeutschen Lebensläufe geht“. Immer habe er sich lustvoll eingemischt, erinnert sich Frank Quilitzsch. „Im Bahnabteil, in der Kneipe oder auf der Parkbank ­ überall hat er sich Notizen gemacht.“

Von solchen Beobachtungen lebt sein Online-Tagebuch. Wobei es ein besonderer Reiz ist, diese Tage vom 18. Dezember 2008 bis zum 4. März 2021 in sich selbst wieder aufleben zu lassen. Es zumindest zu versuchen, denn so vieles war vergessen. Hätte man doch etwas festgehalten, wie Matthias Biskupek es tat. Er hatte, wie es scheint, immer schon Sinn für das Unwiederbringliche. Wie viele Namen von inzwischen Verstorbenen tauchen auf – da wäre tatsächlich Register gut gewesen. An Hanns Cibulka denkt er, an Wilhelm Pieck und Eberhard Cohrs, an Eva Strittmatter und Christa Wolf, an Hadayadullah Hübsch und Gisela Kraft, Edgar Külow und Ernst Röhl, Maxie Wander und Sarah Kirsch, Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann, Erich Loest und Wolfgang Held, Klaus Steinhaußen, Waldtraut Lewin, Hans Weber, Renate Holland-Moritz, Hansgeorg Stengel und, und, und. Der Autor will, dass sie nicht vergessen werden.

Und immer wieder spürt man, wie er sich amüsierte beim Schreiben, schon das Lachen seiner Leser im Ohr. Wie sich im Dorf Uhlstädt ein riesiger Kühlzug in einer engen Straße verklemmte, der Autor macht eine filmreife Geschichte daraus. Mutter und Kind aus Nürnberg fahren im Zug an der Rudelsburg vorbei – köstlich ist diese Szene, reif fürs Kabarett. „Was man nicht sagen darf“ und ein paar „unverständliche Wörter“ – wie er sich über heutige Sprachregelungen mokiert, damit spricht er vielen seiner Generation aus dem Herzen. Ob bei der Thüringer Polizei tatsächlich das Verschwinden von Klopapier aufzuklären war? Ein „Mäusehaus“ hat es 2015 beim Rudolstädter „Vogelschießen“ wohl gegeben. Biskupek hat es immer wieder Spaß gemacht, etwas auf die Schippe zu nehmen, was er erlebte oder in der Zeitung las. Er schreibt sich nicht nur frei, er ist ein freier Geist. In kritischer Distanz, die sich bei ihm aber mit wunderbarem Witz paart. Die Lektüre macht gute Laune. Satirisch bis sarkastisch, so lüftet er die Gemüter aus.

Matthias Biskupek: Worte ohne Verfallsdatum. Aus dem Online-Tagebuch 2008 bis 2021. Herausgegeben von Frank Quilitzsch, Martin Straub und Landolf Scherzer. Nachwort von Steffen Mensching. THK Verlag, 328 S., br., 9,90 €.

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