Zu sich selbst kommen
Mit Rudolf von Waldenfels „In die Nacht“
Irmtraud Gutschke
Betrunken waren sie aufgetaucht. Vorsichtig, um nicht gesehen zu werden, blickte er aus dem Fenster. Junge Männer, um ein Auto geschart, lachten, schubsten sich an, hatten Flaschen in den Händen. Die nächste Ortschaft war fünf Kilometer entfernt. „Niemand würde mir zu Hilfe kommen. Niemand würde überhaupt wissen, wo ich zu suchen war, da ich keinem von diesem Ort erzählt hatte, nicht einmal meiner Frau …“
Diese Frau: Sie bleibt außerhalb des Textes. Doch ich sehe sie, wie sie die Arme hängen lässt. Seit der Krebsdiagnose war ihr Mann nicht mehr er selbst. Nach der ersten Operation hieß es, er habe nur noch ein Jahr zu leben. Mit der zweiten ein Aufatmen: „Ich war wie ein Angeklagter, der mit der Todesstrafe gerechnet hatte, doch überraschend freigesprochen wurde.“ Doch statt glücklich zu sein, war er wie ausgehöhlt. Eines Nachts schaute er aus dem Badezimmerfenster ins Dunkle: „Ich musste da raus. Irgendetwas Großartiges, Spannendes, unendlich Abenteuerliches wartete auf mich …“ Die Frau hinderte ihn nicht, als er an einem Novemberabend das Haus verließ.
Auf dem Rücken trug er „einen kleinen Rucksack mit etwas Proviant und Ersatzkleidung … Irgendwo unterwegs würde ich schon eine Unterkunft finden … Ich kam auf das offene Land hinaus. Die schwarze Teerstraße schimmerte feucht, als sei sie mit Glanzlack bestrichen. Auf beiden Seiten erstreckten sich dunkle Wiesen, aus denen da und dort die schwarzen Silhouetten von Bäumen oder Waldstücken aufragten.“ Und dann verschwand die Straße im Wald …
Lesend wird man wunderbare Naturbeschreibungen genießen, Staunen teilen und Erschrecken. Sprachkraft trifft Elementargewalten. Angst soll durch Angst ausgetrieben werden – und das gelingt tatsächlich. Rudolf von Waldenfels, Jahrgang 1965, einst Schauspieler am Wiener Burgtheater, hat das alles ja selbst erlebt. Wir möchten mit ihm nicht tauschen, fiebern mit ihm, wie er das übersteht. Und sind dabei immer wieder umfangen vom Zauber der Nacht.
Das verlassene Gebäude mit den zerbrochenen Scheiben, früher vielleicht eine Kaserne für DDR-Grenzer, wird für ihn zum „Haus der vergessenen Träume“. Erinnerungen flammen auf: an den gewalttätigen Vater, vor dem sich der Junge in einer Besenkammer versteckte, an die geliebte Schwester, die einen geheimnisvollen Tod fand, die Kriegserfahrungen des Großvaters, an die eigene Vergangenheit in einer radikalen Umweltgruppe, frühere Wanderungen und seltsame Erlebnisse. Alles verbunden durch Nachdenklichkeit im Jetzt. Wie plötzlich es geschieht, dass man sich ausgeliefert fühlt. „Dem Ur-Schrecken ins Auge zu sehen, das war wichtig, das war wesentlich.“
Mysteriöses und Wunderbares. Im Krankenhaus war sein Glaube zerbrochen, „doch irgendwie beschützt, doch irgendwie aufgehoben zu sein“. Nun erscheint ihm der Wald wie eine Kathedrale. „Die Stämme, dunkel, schlank, hoch, trugen die Wipfel, und die Wipfel wiederum, auf ihren auseinanderstrebenden Ästen, trugen sie den Himmel! Einen wunderbaren Himmel, einen geheimnisvollen Himmel, einen Himmel, der sich im Moment noch hinter Milliarden herabschwebender Schneeflocken verborgen hielt, der sich mir aber bald in all seiner Herrlichkeit offenbaren würde.“
Authentisches Erleben, aus der Ich-Perspektive so aufwühlend, spannend geschildert, dass man das Buch nicht beiseitelegt. Auch weil es einen beflügeln kann, wie da einer zu sich selbst findet.
Rudolf von Waldenfels: In die Nacht. Roman. Mitteldeutscher Verlag, 148 S., br.,
20 €.