Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Wolgakinder

„Wolgakinder“: Gusel Jachina gelang ein großer, mitreißender Roman vor historischem Hintergrund

Bachs Märchen

Von Irmtraud Gutschke

Großes Kino. So werden im heutigen Literaturbetrieb gern Romane angepriesen, die Leser in sich hineinziehen, weil sie so emotional, so voller Leidenschaften sind. Eher verortet man dieses Lob im Bereich des Unterhaltsamen, ja Trivialen. Auf Gusel Jachinas Schreiben aber trifft es zu, obwohl es einen ernsten Hintergrund hat: sowjetische Geschichte, tragisch und triumphal, blutig und doch lebensbejahend. Schon in ihrem ersten Buch, „Suleika öffnet die Augen“, spürte man diesen Zusammenhang. Diese Autorin, 1977 geboren in Kasan (Tatarstan), vermag das Lichte und das Düstere zu integrieren, weil es für sie gleichermaßen Vergangenheit ist. Deren Erkundung hat mit eigener Herkunft zu tun. Vorbild für „Suleika“ war ihre Großmutter, die Kindheit und Jugend in der Verbannung an der Ankara verbrachte. Vorliegenden Roman hat sie ihrem Großvater gewidmet, der Deutschlehrer an einer Dorfschule war.

Wie der Schulmeister Jakob Iwanowitsch Bach aus Gnadental, einem beschaulichen Ort an der Wolga, wo seit 1762/63, der Einladung von Katharina II. an deutsche Siedler folgend, die verschiedenen Dialekte in „einem Topf wie das Gemüse in der Suppe“ kochten. Blitzsaubere Holzhäuser in frischen Farben gruppierten sich dort um eine imposante Kirche. In Liebe zur deutschen Dichtung floss Bachs Leben ruhig dahin. Doch dann kam ein Brief von jenseits des Flusses. Er sollte die Tochter eines reichen Bauern unterrichten. Udo Grimm bewohnte ein imposantes Anwesen, doch seine jugendliche Klara war noch nie zur Schule gegangen.

Man kann sich denken, was folgt. Aber so einfach ist es dann doch nicht, dass beide zusammenkommen. Es ist eine große Liebesgeschichte voller Zartheit und Gewalt. Man wird das Buch nicht beiseitelegen, noch viel weniger dann, als Klaras Leiche im Eishaus liegt und ein Säugling nach Nahrung verlangt. Wie Jakob Bach zum liebenden Vater reift, der dann auch noch Wassja, einen Kirgisenjungen, in sein Herz schließt und wie er beide verliert, wird bei Gusel Jachina zu einem Epos voller Menschlichkeit.

Sie hat das Talent, etwas lebendig vor sich zu sehen und so genau beschreiben zu können, dass dieses Bild auch dem staunenden Leser erscheint. Und sie hat ein Gespür für das, wonach es ihren Lesern verlangt. Heimlich, zwischen den Zeilen wohl behütet, lebt in ihr die Utopie: Eine Saat der Güte möge wachsen, ein Miteinander, das in die Zukunft trägt. So war es auch mit den Märchen, die Jakob Bach auf Geheiß des Parteisekretärs Hoffman schrieb, um dafür Milch für die kleine Tochter zu bekommen. Auf wundersame Weise verwirklichten sich die Träume, die darin steckten. Doch Bachs Märchen hatten auch eine Kehrseite. Zwar endeten sie „stets mit dem Sieg der Armen und Unterdrückten, doch wie unmenschlich hart behandelten diese die Verlierer und Besiegten, um welchen Preis errangen die Helden ihre Siege! Wieso war das Bach nicht früher aufgefallen?“ Also hüte dich vor allzu Imposantem, suche das Große im Kleinen?

Aber lässt sich ein Riesenland wie die Sowjetunion so regieren? Die Frage ist des Nachdenkens wert. Es wäre eine völlig andere Staatsstruktur, angreifbar von allen Seiten. Stalin, dem „Stählernen“, gehören einige hintersinnige Kapitel im Roman. Köstlich die Szenen, als er 1927, fast durch Zufall, nach Pokrowsk (ab 1931 Engels), die Hauptstadt der Autonomen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen gelangt. Spielzeughaft erschien ihm alles. Die „ungewöhnliche und damit verdächtige Ordnung und Sauberkeit nervten Ihn“ ebenso wie die Stadtbewohner mit ihrer Emsigkeit. Doch nicht dieses Unbehagen war der Grund, dass die Wolgarepublik 1941 aufgelöst und ihre Bewohner deportiert worden sind. Für Hitlerdeutschland war die deutsche Enklave schon lange ein Faustpfand. Nach dem deutsch-sowjetischen Vertrag von 1939 soll 1940 sogar ein Besuch Hitlers dort geplant gewesen sein. Hakenkreuzfähnchen seien ausgegeben worden. Wer konnte sicher sein, dass sie nach dem deutschen Einmarsch in der Sowjetunion nicht geschwenkt worden wären?

Mit leichter Hand vermag Gusel Jachina vielerlei Überlegungen zu wecken. Die aber sollen nicht rational daherkommen, sondern in Bildern leben. In Bildern, die sich vor dem inneren Auge des Lesers tatsächlich zu einem Film zusammenfügen. Wie ich auf dem Rückflug von Tatarstan in einer russischen Zeitung las, soll wirklich so ein Film entstehen. Und noch eine eigenartige Erkenntnis brachte ich von dort mit: Fast niemand, nicht einmal die ausgebildete Stadtführerin, die ich in Tatarstan fragte, hat von der einstigen Existenz einer deutschen Republik an der Wolga 669 Kilometer südlich von Kasan an und 385 Kilometer nördlich von Wolgograd gewusst.

Gusel Jachina: Wolgakinder. Roman. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Aufbau Verlag, 691 S., geb., 24 €.

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