Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Byung-Chul Han: Lob der Erde

Byung-Chul Han zelebriert ein „Lob der Erde“

„Blumennamen sind Liebesworte“ Sehnsucht nach Stille

Von Irmtraud Gutschke

Sein Vorname Byung-Chul, so heißt es auf Seite 63, bedeute „helles Licht“. Wobei der Philosoph wohl weiß, dass zum Lichten das Dunkle gehört. „Melancholie liegt unter dem Glück.“ Oder hinter? Nein, das ist bei ihm präzise formuliert: Wenn das Glück aufreißt, manchmal sogar im Verglühen, kommt die Melancholie hervor. Wir leben Polaritäten. Wenn wir uns besinnen, werden wir dessen gewahr.

Byung-Chul Han aber meint, dass es uns gerade am Besinnen fehlt. 1959 in Seoul geboren, habilitierte er sich im Jahre 2000 an der Universität Basel und ist, mit einem Umweg über Karlsruhe, inzwischen Professor an der Hochschule der Künste in Berlin. Wo er nun wahrscheinlich auch bleiben wird, wie wir nach der Lektüre dieses Buches vermuten. Denn zusammen mit seinen Pflanzen hat er Wurzeln geschlagen. Einen Garten, den man liebt, gibt man nicht so leicht auf.

An einer Stelle des Buches beschreibt er, wie er nach der Rückkehr von einer Reise nachts noch in seinen Garten eilte – zu seinen „Geliebten“. Sprachmächtig erlebte ich den Philosophen schon in früheren Büchern, aber noch nie so emotional hochgestimmt. Was ihm widerfahren sein mag, sinnierte ich beim Lesen. Aber reicht es nicht, dass ihm ein Garten widerfuhr? Man kann dort Glück finden, wenn man es kann. Das Pflanzen und Jäten, das hier ausgiebig beschrieben wird, geht bei ihm einher mit Selbstreflexion. Wie es sich für einen Philosophen gehört, weiß er sich in einem tiefen Zeitstrom. Mit einem Zitat aus dem „Buch Hiob“ beginnt es und setzt sich fort mit Laotse. Schuberts „Winterreise“ durchklingt immer wieder den Text, Kant, Hölderin, Schiller, Heidegger, Walter Benjamin und, und, und werden aufgerufen.

Novalis‘ „Blaue Blume“ darf nicht fehlen. Heliotropum arborescens, die Vanilleblume, werde ich unbedingt dieses Jahr in meinen Garten bringen. Auch die Zaubernuss (Hamamelis) will ich jetzt haben und den Winterschneeball. Auf die strahlend blaue Anemone blanda habe ich Lust bekommen, der Gottfried Benn ein Gedicht gewidmet hat. Und meine Funkien, deren kurze Blüte mir eher unscheinbar erschien angesichts der prächtigen Rosen, werde ich von nun an besser zu würdigen wissen, weil Byung-Chul Han sie in ihrer besonderen Schönheit beschreibt.

„Blumennamen sind Liebesworte“ – hier finden sich viele davon. Neben den deutschen gibt es immer auch die lateinischen Bezeichnungen. Adorno wird zitiert: „Wenn die Linien unseres Schicksals zum unentwirrbaren Netz sich verstricken, dann sind Namen je und je die Siegel, die der Lineatur aufgeprägt werden …, indem sie uns Initialen vorhalten, die wir nicht verstehen, aber denen wir gehorchen.“ Das bezieht sich hier nicht auf Gewächse, sondern auf den derzeitigen südkoreanischen Präsidenten. Moon Jae-in hätte der Autor dessen Opponenten Ahn Cheol-soo vorgezogen, der die Industrie stärker kontrollieren und sich für eine bessere Verteilung von Wohlstand und Lebenschancen einsetzen wollte. Wobei bekannt ist, dass auch viele Pflanzen ihre Signatur bereits in ihren Namen tragen.

Gartenbücher sind Aufforderung zur Achtsamkeit: Beobachtung von Einzelheiten, von Veränderungen. Sich vertiefen bei der Arbeit mit der Erde. Verweilen. Staunen über jenes zyklische Weltgefühl, das sich dabei einstellt – dem Wissen zum Trotz, dass wir linear gepolt sind und so wie wir sind, im Kreise unserer Lieben nicht wiedergeboren werden können. Die Zeit des Gartens ist die Zeit des Anderen“, schreibt Byung-Chul Han. „Jede Pflanze hat ihre Eigenzeit.“ Der Garten habe ihm eine intensive Zeiterfahrung gegeben. „Er gibt mir Sein und Zeit.“

Ja, wenn man dem Wachsen und Werden Vorrang einräumt, füge ich hinzu. Nicht so wie ich in diesem Moment, da die Sonne scheint und mich in die Beete ruft, während ich mit diesem Buch befasst bin, das ich gern und mit Gewinn gelesen habe. Und nun will ich darüber schreiben, mir einreden, dass auch dabei „Sein und Zeit“ zu gewinnen sei. Weiß ich’s? Unabwendbar ist, dass es angesichts begrenzter Zeit immer dieses „Entweder Oder“ gibt. Wer denkend lebt, weiß um die Verluste hinter dem geistigen Gewinn.

Zu Buyng-Chul Hans zahlreichen Büchern gehören „Müdigkeitsgesellschaft“ und „Transparenzgesellschaft“ über die Selbstausbeutung und im neoliberalen Zeitalter und die Hyperkommunikation, die totale Ausleuchtung, die zu einer besonderen Art des seelischen Burn-outs führt. So wie er nach den Bedingungen individueller Existenz fragt, kann ein Garten tatsächlich eine Antwort sein. Natürlich ist das ein Rückzugsort, ein kleines Stück heile Welt inmitten von Umständen, die unzufrieden machen. Es gibt massenhaft Gartenbücher, doch dies stammt von einem Philosophen, der um seine Ohnmacht weiß, die ganze Welt zu verbessern, und hier lediglich von seinen beglückenden Erfahrungen schreibt. Den Kontrast dazu hat man als Leser doch immer im Blick.

An wissende Leser richtet sich der Autor, an solche Menschen, die wie er selbst, ein Ungenügen spüren und nicht einfach nur mit fliegenden Fahnen der Digitalisierung entgegeneilen können. Sie werden sie nicht aufhalten, das wissen sie, aber die Freiheit der Skepsis kann ihnen niemand nehmen. „Angesichts der Digitalisierung der Welt täte es not, sie zu reromantisieren, die Erde, ihre Poetik wiederzuentdecken, ihr die Würde des Geheimnisvollen, des Schönen, des Erhabenen zurückzugeben.“ Dieser Satz dürfte höhnische Kommentare einbringen, was wieder ein Beweis dafür wäre, wie weit wir im gegenseitigen Ausschließen schon gekommen sind. Wer verurteilt, erhöht sein Ego und kaschiert diesen narzisstischen Antrieb mit allgemeinem Interesse. Eine andere Sicht Verstehen-Wollen bringt weniger Effekt, wirkt in der Sanftheit irgendwie kraftloser, wobei es doch auf das Integrieren ankommt, um aus unterschiedlichen Herangehensweisen etwas zu lernen.

Es macht dieses Buch nicht kleiner, wenn man es ein literarisches nennt. Wieviel Mut mag es dem Autor gekostet haben, sich so persönlich zu offenbaren. Bei der Arbeit im Garten scheint er tatsächlich sein Selbst befreit zu haben. Das kann nicht zu idyllischen Empfindungen führen. Angesichts des berühmten Rilke-Gedichts „Rose, oh reiner Widerspruch“ sehnt er sich nach einem „Rosenschlaf“, der tief, aber hell sein möge. „Ich würde gerne mich wegschlafen zu Niemand, zu Namenlosem. Das wäre eine Erlösung. Heute sind wir nur noch mit dem Ego beschäftigt. Jeder will jemand sein, laut, jeder will authentisch sein, anders als andere.“ Wie draus eine Sehnsucht nach Stille erwächst, davon handelt dieses Buch.

Byung-Chul Han: Lob der Erde. Eine Reise in den Garten. Mit Illustrationen von Isabella Gresser. Ullstein Verlag. 156 S., geb., 24 €,

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