Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Chinas langer Marsch in die Moderne

Was ist das für ein Sozialismus?

„Chinas langer Marsch in die Moderne“ von Beat Schneider bietet aufschlussreiche Lektüre

Irmtraud Gutschke

Überaus verdienstvoll, wie sich der Papyrossa Verlag um das Thema China kümmert. Von Wolfram Elsner, der von Beat Schneider auch immer wieder zitiert wird, gibt es eine ganze Buchreihe, zuletzt „China und der Westen. Aufstiege und Abstiege“. Dazu in diesem Jahr von Felix Wernheuer „Chinas große Umwälzung. Soziale Aufstiege und Konflikte im Weltsystem“. Acht eng bedruckte Seiten mit Quellenangaben hat vorliegender Band. Doch selbst wenn es noch viel mehr profunde China-Publikationen gäbe, die Vorurteile in Bezug auf dieses riesige Land halten sich hartnäckig und werden immer wieder neu genährt.

 „Die VrCh ist die erste Großmacht, deren Machtgewinn ausschließlich auf wirtschaftlichen und politischen Mitteln beruht“, stellt Beat Schneider fest. Als zweitgrößte Wirtschaftsmacht hat dieser Staat die USA als größtem Kreditgeber verdrängt. Die Finanzreserven sind enorm. Zudem hat sich dieses Wirtschaftswunder unter Führung einer kommunistischen Partei vollzogen, die einen Sozialismus chinesischer Prägung proklamiert. Zur politischen und wirtschaftlichen Konkurrenz aus dem Osten kommt eine Auseinandersetzung der Systeme. Zwar wird von chinesischer Seite betont, keine Hegemonie anzustreben, schon gar nicht mit kriegerischen Mitteln, aber die Kräfteverhältnisse verschieben sich, zumal China mit Russland im Bunde ist. Allein schon, indem China die Entwicklung des globalen Südens vorantreibt, wird es den reichen Ländern schwerer, von der Ausbeutung der armen zu profitieren.

„Zwanzig nicht-eurozentristische Thesen“: Der Untertitel des Buches verweist auf seinen großen Vorzug. Beat Schneider geht von westlichen Vorstellungen aus und strukturiert das Buch nach Fragen, die viele bewegen. Wie soll man diese 5000-jährige Zivilisation verstehen? Wie anders ist das chinesische Herangehen? Welche Traditionen hat es? Welche Rolle spielen die „Hundert Jahre Demütigung“ im chinesischen Bewusstsein? Wie unterscheidet sich die Entwicklung zum Sozialismus in China vom sowjetischen Modell? China und die Frauen, die Umwelt, die Corona-Krise, der Uiguren-Konflikt … Der Autor nimmt auf, was irgendwie undeutlich im öffentlichen Bewusstsein ist und erklärt es mit Fakten und klaren Worten.

„Charakteristika der neuen Weltordnung aus chinesischer Sicht …  kooperativ, verantwortungsvoll, am gegenseitigen Nutzen orientiert, nicht protektionistisch, antihegemonial und multipolar“. Die Volksrepublik schlägt einen neuen Typ von internationalen Beziehungen vor, der durch Kooperation gekennzeichnet ist und folgt damit einer langen konfuzianischen Tradition. Das bedeutet auch vernünftige Beziehungen zu den USA. Ob das gelingt?

Interessant ist der Abschnitt über die Sinophobie  europäischer Linker, die China einfach nur als kapitalistisches Land sehen. Sicher spielt dabei auch der antikommunistische China-Diskurs in den Mainstream-Medien eine Rolle. Auch hat der Autor Recht mit der Feststellung, dass die Schwierigkeiten beim Aufbau einer postkapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht mehr so faszinierend sind wie der Befreiungskampf. Er sieht einen Staat, „der sowohl von sozialistischen Prinzipien geleitet wird, als auch marktwirtschaftliche Elemente einsetzt, um diese Prinzipien zu erreichen“. Kann der Westen von China lernen, ist für mich die Frage. Die Vorstellungen von Demokratie sind dort anders als hier. Beat Schneider lobt die chinesische Debattenkultur, erklärt Selbstverwaltung und Netzwerkstrukturen. Dezentralisierung und gleichzeitig eine starke Zentralmacht? Die Lektüre entlarvt nicht nur die antikommunistische Propaganda, den antiasiatischen Rassismus, sondern zeigt zugleich die Herausforderungen, sich auf etwas Ungewohntes einzulassen. Wie würde es sich anfühlen, nicht mehr nur in Kategorien des „Entweder-Oder“ zu denken und einem „Sowohl-Als-Auch“ Raum zu geben? Ein Gemeinschaftsgefühl, wie es unter Jahrhunderten kapitalistischer Entwicklung begraben worden ist, würde es sich denn wiedergewinnen lassen? Ausführlich behandelt der Autor westliche „Albträume“, die sich mit China verbinden, was die Menschenrechte allgemein und die digitale Überwachung im Besonderen betrifft. Notwendige Aufklärung, denn die meisten, die darüber urteilen, tun es ohne eigene Erfahrung. Überhaupt: Was ist das für ein Sozialismus, den die KPCh sich zum Ziel gesetzt hat? Wohl lässt sich dieses Modell nicht kopieren und schon gar nicht exportieren, niemand möge also beunruhigt sein. Klar aber ist, dass sich die kapitalistische Gesellschaft in einer Krise befindet und sich unweigerlich verändern wird. In welchen Zeiträumen und auf welche Weise, weiß momentan niemand. Da werden sich die Blicke auch nach China richten.

Beat Schneider: Chinas langer Marsch in die Moderne. Zwanzig nicht-eurozentristische Thesen. PapyRossa Verlag, 333 S., br., 22,90 €.

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