Plötzlich auf offenem Meer
Irmtraud Gutschke
Unheimlich – wie kaum ein anderes passt dieses Wort zum heutigen Zeitgefühl. Kontrollverlust: Es ist, als ob wir uns im Nebel auf einer kurvenreichen Strecke befinden, und das Navigationsgerät ist ausgefallen. Wir wissen nicht, was nach der nächsten Biegung kommt, ja können nicht einmal die Straße drei Meter vor uns sehen. Wobei dieses Bild einer Straße wenigstens noch impliziert, vorerst noch einigermaßen geschützt im Auto zu sitzen. Aber wie wäre es, wenn man während eines Urlaubs die Insel Frauenchiemsee besuchen würde und plötzlich würde alles von einer riesigen Nebelwolke verschluckt, wie es Christiane Neudecker in einer ihrer unheimlichen Geschichten beschreibt. Letztlich gäbe es kein Entrinnen. Oder doch? Und alles vorher wäre wie ein Tanz auf dem Vulkan. „Und wir singen im Atomschutzbunker“, röhrt Henning May. „Hurra, diese Welt geht unter!“
So etwas bizarr Lustvolles ist auch in diesem Buch verborgen. Christiane Neudecker, als Theaterregisseurin international vernetzt, will ja auch unterhalten. „Das siamesische Klavier“, ihr erster Band mit unheimlichen Geschichten, wurde mit dem Phantastikpreis der Stadt Wetzlar belohnt. Sie schreibt mit Lust, das merkt man beim Lesen, freut sich an ihren Einfällen und macht einem nicht wirklich Angst. Es ist ein Spiel mit Situationen, die wir kennen oder eben nicht, weil sie sich in etwas Unerwartetes verkehren können. „Face ID unbekannt“. „Noch einmal versucht er, sein Passwort einzugeben.“ Aber Adrian hat sich verändert, nachdem auf der Engelbrücke in Rom eine Statue auf ihn fiel. In vielen Märchen steckt ja die Warnung: Sei vorsichtig mit deinen Wünschen.
Wie verlässlich sind Vorahnungen? Ist es so abwegig, sich in einer KI-gesteuerten Welt wiederzufinden, wie es der Ich-Erzählerin in einer wunderschönen Villa an der Costa del Sol geschieht? Wie groß ist die Versuchung zu töten, wenn man sich nur dadurch retten kann? Und auch besagter „Nebel des Grauens“ muss nicht das Weltende sein, wenn man um Hilfe zu bitten weiß.
Am besten gefiel mir die letzte Geschichte, „Point Nemo“, wo ein Rentner mit dem Allerweltsnamen Meyer sein gewohntes Montagsschwimmen ganz anders erlebt als gewohnt. Das Wasser ist nicht kalt, die Farben verändern sich, und plötzlich ist er auf offenem Meer. „Man müsste erschrecken“, denkt er, aber sein Herzschlag ist ruhig. Was für eine brillante sprachliche Inszenierung! „Das ist unlogisch, denkt Mayer.“ Träumt er?“ Kann es sein, dass er sich vor den Küsten der Kanarischen Inseln befindet? Dort, wo die Raumstation „Mir“ versunken ist? „Wie lange kann man so liegen, so schwerelos im All?“
Christiane Neudecker: Die Welt wartet. Unheimliche Geschichten. Luchterhand.
255 S., geb., 22 €.