Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Daniela Dahn: Der Schlaf der Vernunft

Wacht auf und lasst euch nicht beirren

„Der Schlaf der Vernunft“ – Daniela Dahn analysiert „Kriegsklima, Nazis und Fakes“

Irmtraud Gutschke

Auf dem Titelbild Goyas berühmte Radierung „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Passend zu diesem mutigen Buch, denn Daniela Dahn weicht den Ungeheuern nicht aus und redet sie nicht klein. „So ist alles, was geschieht, nur eine Fortsetzung der Reihe und kein Anfang, der sich von selbst zutrüge“ – getreu dem Leitsatz Immanuel Kants nimmt sie all das gegenwärtig so Beängstigende in den Blick. Wir bilden es uns doch nicht ein. Das Kriegsklima ist tatsächlich bedrohlich, und den wirtschaftlichen Niedergang unseres Landes bekommen wir hautnah zu spüren. „Wir haben reichlich Gelegenheit, die Vorstellung zu empfangen, dass die Vernunft bei den von uns gewählten Entscheidungsträgern schläft. Sie halten nicht hinreichend Schaden von ihrem Volk ab, wozu sie sich verpflichtet haben. Sie versagen darin, eine Friedensordnung zu gewährleisten, den irreparablen Kipppunkt des Klimas zu verhindern, Fluchtursachen zu bekämpfen. Sie schüren Ängste vor Pandemien, aber gehen ein Weltkriegsrisiko ein, um ihre Werte, also ihre Herrschaft, durchzusetzen.“

Glänzende Polemik, gnadenlose Analyse – in einem uns Lesenden zugewandten Ton. In erster Person tritt uns die Autorin gegenüber, flicht Lebenserfahrungen ein. Sie ist ja 1989 eine der Mitbegründerinnen der DDR-Oppositionsgruppe „Demokratischer Aufbruch“ gewesen, wollte aber deren Annäherung an die CDU nicht mittragen. Der Untersuchungskommission zu den Polizeiübergriffen vom 7. und 8. Oktober 1989 in Berlin hat sie angehört, wurde von der PDS 1998 als Kandidatin als Verfassungsrichterin in Brandenburg vorgeschlagen. Dass sie im Landtag nicht die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit bekam, verwundert nicht. Im April 2022 gehörte sie zu den Unterzeichnerinnen eines offenen Briefes an Kanzler Scholz gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und war im Februar 2023 Erstunterzeichnerin des von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht verfassten Manifestes für Frieden. Ihre Eröffnungsrede auf dem Parteitag des BSW ist hier abgedruckt. Da äußert sie als Parteilose die Hoffnung auf Kooperation mit der Linken dort, „wo sich Gemeinsamkeiten erhalten haben“. Als Internationalistin bekennt sie sich zur „anhaltenden Gültigkeit der revolutionären Forderung „Prekarier aller Länder vereinigt euch!

Dass die heutigen Herausforderungen global sind, ist keine leere Floskel. Mit Daniela Dahn kann man das Denken in Zusammenhängen üben, hinter den Erscheinungen nach dem Wesen gesellschaftlicher Vorgänge suchen, zumal hier nichts vereinfacht wird. Erhellende Lektüre, weil die Autorin ihre Einschätzungen – zum Krieg in der Ukraine, zu den Defiziten kapitalistischer Demokratie, zu Antisemitismus und Rassismus, zu den Wahlerfolgen der AfD und zur Ost-West-Debatte – immer auch mit Fakten unterlegt, von denen viele mir vorher so nicht bekannt gewesen sind. Dass die Sprengung der Nord-Stream-Pipeline „den größten Methan-Ausstoß aller Zeiten“  brachte, dass schon in Friedenszeiten „das Militär laut SIPRI ein Viertel der weltweiten Umweltverschmutzung“ verursacht. „Doch die Staaten, als wären sie unbelehrbar, gaben schon bisher sechsmal weniger für die Bewahrung des Klimas aus als fürs Kriegswesen.“ Wenn die „bewundernswert Kampfentschlossenen von den Ökologie-Bewegungen … so vehement für eine Verkehrswende“ kämpfen, wieso nehmen sie es dann hin, „dass das Militär für seinen ökologischen Fußabdruck weltweit niemandem rechenschaftspflichtig“ ist? Laut einer Studie der NGO „Oil Change International“ sei der „Kerosinverbrauch von vier Jahren Irakkrieg so hoch … wie der Jahresverbrauch von 25 Millionen Autos“ gewesen.

Es erstaunt ja nicht, wenn deutsche Leitmedien allein Russland für die ökologischen Folgen des Ukraine-Kriegs verantwortlich machen und nach wie vor für deutsche Waffenlieferungen plädieren. „Nach den Maidan-Ereignissen gehörte ich im Mai 2014 zu den Initiatoren des Appells ‚Aus Sorge um den Frieden‘, in dem es hieß: Lassen Sie nicht zu, dass der Kampf um die Ukraine zu einem Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland eskaliert.“

Inzwischen sei das Dilemma offensichtlich, so Daniela Dahn: „Je erfolgreicher die Nato-Kriegsführung auf dem Boden der Ukraine und dem neuen Gefechtsfeld Russland wäre, desto wahrscheinlicher würde ein russischer Einsatz von Atomwaffen. Erfolg als sicherster Weg in den Untergang.“ Die 100 Milliarden Euro Sondervermögen für Rüstung, „praktische Konsequenz der Scholz’schen Zeitenwende, sind eine Investition in genau dieses Fiasko“.

Auch dafür hat die Ampel-Koalition bei den ostdeutschen Landtagswahlen eine Quittung erhalten. Warum so viele Stimmen für die AfD? War das wirklich ein Votum gegen die „Demokratie“ oder eher gegen das, was darin nur Fassade ist? Wurzelt der „Rechtsruck“ gar im „Inneren“ des bundesdeutschen Staates?  Denn „Antifaschismus war in der Bundesrepublik nie Staatsräson. Das antikommunistische Rollback der politischen Entscheidungsträger im Westen“ nach dem Beitritt der DDR zur BRD – viele Beispiele werden dafür angeführt – „hat nicht nur den Osten erfasst, sondern das ganze Land“. Was da im Einzelnen alles an Ungerechtigkeit geschehen ist, viele werden es vergessen haben. „Nach repräsentativen Erhebungen demonstrierten zwischen 1990 und 1994 in Ostdeutschland drei Millionen Menschen gegen Entlassungen und Ungleichbehandlung – doppelt so viele wie bei der ‚friedlichen Revolution‘ – doch sie wurden ignoriert.“   

Aus machtpolitischen Gründen wurde die Einheit nicht nach dem eigentlich dafür vorgesehenen Grundgesetzartikel 146 vollzogen. Welche Möglichkeiten der Verfassungsentwurf des Runden Tisches bot, der am 4. April 1990 der neu gewählten Volkskammer übergeben wurde, ist nachzulesen. Was für Chancen damals vertan wurden! „Es war Pflichtvergessenheit gegenüber einem sich ausbreitenden Ohnmachtsgefühl von Bürgern, die zu dem sofort einsetzenden Rechtsruck beigetragen hat, zu Frust, Hass, Gewalttätigkeit und Verachtung der repräsentativen Demokratie. Es war organisierte Verantwortungslosigkeit der Mächtigen.“

Werden diese „Mächtigen“ durch ein Buch wie dieses aus dem „Schlaf der Vernunft“ erweckt und zum Nachdenken gebracht? Machen wir uns über die Machtverhältnisse keine Illusionen. Lassen wir uns selbst nicht beirren, behalten wir den Kopf oben und tun wir, was wir können.   

Daniela Dahn: Der Schlaf der Vernunft. Über Kriegsklima, Nazis und Fakes. Rowohlt Verlag, 192 S., geb., 16 €.

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