Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Die Mäzenin Tschaikowski

Wie er sich versteckte. Wie sie um ihn kämpft

„Die Mäzenin Tschaikowskis“ – Tatjana Kuschtewskaja erzählt eine tragische Liebesgeschichte

Irmtraud Gutschke

Podcast:
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1170776.literatur-die-maezenin-tschaikowskis.html

Dank an die Edition Noack & Block für dieses packende Buch von Tatjana Kuschtewskaja. Ein kleiner Verlag. Das setzt dem Marketing von vornherein Grenzen. Dabei hätte ich mir „Die Mäzenin Tschaikowskis“ von Tatjana Kuschtewskaja gut im Hanser-Programm vorstellen können oder bei Suhrkamp, wo Kulturhistorisches zum Programm gehört. Aber auch große Verlage konzentrieren die Werbung auf wenige Spitzentitel, und das andere läuft irgendwie mit. Der Mainstream richtet sich auf Gegenwärtiges aus, auf Konfliktstoffe, die freilich im Verhältnis zwischen Tschaikowski und Nadeschda von Meck durchaus aufscheinen. Denn es handelt sich um eine Zeit, in der Homosexualität bestenfalls als Missbildung oder Krankheit galt und keinesfalls darüber gesprochen werden durfte. Das ist in viel mehr Ländern heute noch so, als wir ahnen. Und überall gibt es arme Künstler, die von Zuwendungen abhängig sind.

Der Titel des Buches lässt vermuten, dies sei eine Biographie, aber eigentlich ist es ein Roman, der nicht nur weit in die russische Geschichte greift, sondern auch das Leben der Autorin mit einbezieht, die, 1947 in einer turkmenischen Wüstenoase geboren, in der Ukraine aufwuchs und seit 1991 als Schriftstellerin in Deutschland lebt. Um Nadeschda Filaretowna von Meck (1831-1894) geht es, ohne die es womöglich das Werk Pjotr Tschaikowskis (1840-1893) so nicht gäbe, wie wir es kennen. Aber es geht natürlich auch um das Leben des berühmten Komponisten sowie um Baron von Meck (1821-1876), der seiner Frau jenes Vermögen hinterließ, aus dem sie Tschaikowski jährlich 6000 Rubel Unterstützung gewähren konnte. („Zum Vergleich: Das Gehalt des Verkehrsministers betrug in jenen Jahren in Russland 2400 Rubel im Jahr.“) Es geht um eine Liebesgeschichte und immer auch um die Autorin selbst, die wir bei ihren Recherchen begleiten, wobei sie ihre Erkundungstouren mit Erinnertem und Erlesenem verbindet, mit Reminiszenzen über das Leben.

Der Buchumschlag zeigt die Baronin mit jenem unbewegten Gesicht, das ihr den Namen „das eiserne Weib“ einbrachte. Was sie nicht war, wie Kuschtewskaja nicht müde wird zu betonen. Nadeschda Filaretowna hat elf Kinder zur Welt gebracht, war stark, zäh. Und dabei hatte sie „ein vorzügliches Gedächtnis, eine stolze Haltung, war edelmütig und hatte ein Gespür für Musik“. Mit 15 hatte sie Baron von Meck kennengelernt, mit 17 wurde sie seine Frau. 45 war sie, als er mit 54 Jahren an einem Herzinfarkt starb. 

So engelgleich, wie sie ihm zuerst erschienen war, entpuppte sie sich bald als eine ehrgeizige unternehmungslustige Person. Sie bestärkte ihren Mann,  den Staatsdienst im Rang eines Ingenieur-Oberst aufzugeben und das Wagnis einzugehen, Unternehmer zu werden. Über Tschaikowski und seine Mäzenin hatte ich früher schon einiges gehört und gelesen, nicht aber über Karl Fjodorowitsch von Meck, der aus einem alten baltischen Rittergeschlecht stammte und mit dem Bau der Eisenbahnlinie Moskau-Rjasan „ein glänzendes Spiel gespielt“ hatte. Einprägsam zeichnet Tatjana Kuschtewskaja den Charakter dieses Mannes, der die Armut um sich herum wohl sah und Angst vor ihr hatte. „Zu Geld kommen, sich an den Haaren aus dem Sumpf des armen Alltagslebens ziehen, ehrlich an allem sparen … finanzielle Unabhängigkeit erlangen und dann, von dieser Position aus, wenn es klappt, durch Wohltätigkeit andere retten, alle in dieser grausamen Welt retten …“ Was für eine Vision!

„Du weißt, es gibt einen Parameter, nach dem man die Qualität eines jeden Landes bemessen kann: wie kann man dort Geschäfte machen“, sagt sein Freund, Baron Pawel von Derwies, zu ihm. „In Russland wird einem Geschäftsmann nicht geholfen, er wird gehindert. Die Tänze um die Macht nehmen zu viel Zeit und Kraft in Anspruch.“ Was für ein Glück, als 1861 unter Zar Alexander II. ein Vertrauter der beiden zum Finanzminister des Russischen Imperiums wurde: Michail Christophorowitsch Reutern, der wie nicht wenige im Staatsdienst ein Deutscher war.

Was für tiefe Wurzeln das Verhältnis unserer beider Länder hat, wie es immer wieder erschüttert wurde, wie deutsche Schuld auf russische Vergebung traf nach 1945 und wie Brücken abgerissen werden, daran musste ich denken, als ich von Tatjana Kuschtewskajas Recherchen in Moskau las. Wann komme ich dort wohl wieder hin? Wenn ich über Istanbul fliege, was sehr teuer ist, vielleicht. Aber wie würde es mit einem Visum sein, da Russland ja spiegelbildlich auf die EU-Bestimmungen  reagiert, die es nach dem russischen Einmarsch in die  Ukraine Russen unglaublich schwer machen, in den Schengen-Raum einzureisen. Tatjana Kuschtewskaja hat eine Tochter in Moskau, die Künstlerin ist und auch das Titelbild des Buches gezeichnet hat. Wie können sie einander jetzt besuchen?

Früher ist sie natürlich oft dort gewesen. „Immer, wenn ich in Moskau bin, gehe ich zur Puschetschnaja Straße Nummer 9“, schreibt sie. „Dort befand sich der berühmte ‚Deutsche Klub‘, den der Baron so gern besuchte.“ Ein vornehmes Haus, 1914 in „Slawischer Klub“ umbenannt, 1917 in  „Arbeiterklub“. 1939 wurde es zum Zentralhaus für Künstler. Jetzt ist das Gebäude wunderbar restauriert. Für die Autorin sind es „Lieblingsstunden“, dort im Café „Cafémanija“ zu sitzen und zu beobachten, wie draußen das Moskauer Leben „tobt“.

Wenn wir mit ihr auf eine Zeitreise gehen in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, nehmen wir an ihrem Staunen teil, wie ihr immer wieder Zufälle zu Hilfe kamen. So hatte sie, als sie noch Dokumentarfilmerin in Moskau war, im Ministerium für Fischwirtschaft zu tun, wo Präsident Jelzin Auszeichnungen übereichte. Da war ihr ein älterer Mann aufgefallen, der ganz hinten im halbdunklen Saal an einer Säule lehnte. Als alle auseinander gingen, war sie zu ihm getreten. „Was für ein schöner Palast …“ Da hatte er ihr erzählt, dass es das Haus des Barons von Meck gewesen war, und hatte ihr ein Zimmer gezeigt, in dem sich einst das Boudoir von Nadeschda befunden hatte. Ein Teil der Korrespondenz mit  Tschaikowski dürfte hier entstanden sein.

In 14 Jahren haben sie einander 1200 Briefe geschrieben, die in drei dicken Bänden gesammelt sind. Aus einigen von ihnen wird im Buch auch zitiert. Wobei es, wie gesagt, eher eine romanhafte Erzählung ist, in der sich eine Frau in die andere einfühlt und sie dabei liebgewinnt. Wir sehen Nadeschda nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes durch das große Haus irren, nervös, reizbar. Gewissermaßen zog sie sich in ein „inneres Kloster“ zurück. Das Alter, die Einsamkeit – daraus rettete sie Tschaikowski und sie rettete ihn, indem sie sein Genie erkannte, als er noch ein bescheidener Professor des Moskauer Konservatoriums war. Mehr noch, als die damalige Musikwelt ihm gleichgültig gegenüberstand oder ihn gar ablehnte.

Was für ein beseeltes Erzählen! Wie die Autorin Begeisterung wecken kann, wie Musik in die Sprache eindringt. „Als die ersten Töne erklangen, vergaß ich alle und alles.“  Nadeschdas Brief nach einer Aufführung von Tschaikowskis „Sturm“ ist eine Hommage an die Macht der Musik. So begann ihre Beziehung: der schüchterne, unsichere Tschaikowski und die Baronin, die für ihn schwärmte. „Er hatte gewissermaßen vorausgesehen, dass eine einsame und leidenschaftliche Frau sich nicht mit einer Freundschaft begnügen werde“, und wollte kein Zusammentreffen. So floss alles in ihre Briefe.

Wie furchtlos sie die Barrieren der Konvention übersprang. „In Ihrer Musik verschmelze ich in eins mit Ihnen“, schrieb sie. Und Tatjana Kuschtewskaja ist an ihrer Seite, während sie in ihrer „Liebe, Eifersucht und Verzweiflung“ gleichsam „zufällige Begegnungen“ zu inszenieren trachtet. Wie er auf Reisen ging, sie ihm das „Du“ anbot, und er höflichst ablehnte, zur Anrede „mein Freund“ überging. Wie sie in Florenz eine luxuriöse Villa für ihn mietete, nicht weit entfernt von der ihrigen, und später eine Wohnung in Paris. Wie er von seiner „zur Manie gesteigerten Schüchternheit“ schrieb, sich herausredete, während er doch von ihr abhängig war und seine eigentlichen Neigungen verhehlte, von denen man nicht weiß, wann er sie erkannte. Wie er sich versteckte. Wie sie um ihn kämpft.

Eifersüchtig war sie auf seinen „lieben Aljoscha“, seinen Neffen, der bei ihm wohnte und den er „mein lieber Bob“ nannte. Die Forderung ihrer Kinder, angesichts der eigenen prekärer werdenden Situation, die Finanzierung des Komponisten zu beenden, bestürzten sie. „Verstehen Sie doch, Mutter, er braucht nur Ihr Geld!“ Und ihre finanziellen Mittel schwanden. Wie kam es zum Bruch? „Hat irgendetwas in ihrem Wissen über ihn“ dazu beigetragen?, fragt Tatjana Kuschtewskaja. Man dürfe nicht vergessen, „was das für eine Zeit war“. Homosexualität stand nach Paragraph 995 unter Strafe. Hinzu kamen, so füge ich hinzu, Vorurteile in der Öffentlichkeit, die in Russland bis heute bestehen, begleitet von Unwissenheit und irrigen Vorstellungen. Als Tschaikowski Antonina Miljukowa heiratete (ein ganzes Kapitel im Buch gilt dieser Beziehung, die nach kurzer Zeit zerbrach), hat er keinen Zweifel daran gelassen, dass sie „mit der stillen und ruhigen Liebe eines Bruders zufrieden“ sein müsse. Und sie hat in ihrer Einfalt vergeblich versucht, „Gefühle wie Eifersucht in ihrem Mann zu wecken“. Eine tragische Geschichte auch dies.

„Der Grund für Tschaikowskis Tod ist bis heute nicht genau geklärt.  Die einen Biographen schreiben, er sei an Cholera gestorben, nachdem er ein Glas unabgekochten Wassers getrunken habe. Andere behaupten, er habe nach dem Urteil des Ehrengerichts der Juristenschule, an der er in der Jugend studiert hatte, Selbstmord begangen.“ Sein Neffe, der „geliebte Bob“ nahm sich 1906, mit 37 Jahren das Leben. Nadeschda von Meck hat den Komponisten lediglich um drei Monate überlebt. An Kehlkopftuberkulose oder Kehlkopfkrebs soll sie verstorben sein.

Tatjana Kuschtewskaja greift am Schluss ihres Buches zum Kunstgriff eines Briefes an die Verstorbene, um ihrer Verehrung Ausdruck zu geben – und ihrer  Bewunderung für Tschaikowskis Musik. Dabei erinnert sie sich, wie das Ballett „Schwanensee“ in der UdSSR immer wieder zum „Symbol für Veränderungen und zum Schlussakkord der sowjetischen Epoche“ wurde.

Vier Jahre hat sie an diesem Buch gearbeitet. Ihr Nachwort, in dem es unter anderem um das mir bis dahin unbekannte Instrument „Theremin“ und um „Wanzen“ als Abhörgeräte geht, schließt mit eigenen Erfahrungen als Mäzenin. Mit ihrem Mann, Dieter Karrenberg, hat Tatjana Kuschtewskaja 1998 in der Ukraine den privaten Literaturpreis „Oles Gontschar“ gestiftet, mit dem sie bis jetzt mehr als hundert junge Künstlerinnen und Künstler unterstützte.

Tatjana Kuschtewskaja: Die Mäzenin Tschaikowskis. Aus dem Russischen von Susanne Rödel und Steffi Lunau. Edition Noack & Block, 240 S., geb., 24 €.

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