Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Drei ostdeutsche Frauen …

„Darf ich euch eine Bulette auftragen?“

 „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“ von Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann

„Drei Frauen lehnen an der Brüstung eines Balkons in der achten Etage eines Berliner Plattenbaus, mit Blick auf den Luisenstädtischen Kanal. Sie sind nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. Wenke ist vor zehn Jahren hierhergezogen, gerade noch rechtzeitig. Denn inzwischen hat die Platte wieder Wartelisten, für all jene, die keine bezahlbare Wohnung im Zentrum finden können.“ Sie reden über die Wohnungen, die sie damals hatten, über ihre Familien, übers Putzen und Rauchen und stellen eine Liste der alkoholischen Getränke zusammen, die sie probiert haben. Die erste Flasche Crémant ist schon leer.

Drei Frauen, die sich mögen und bester Laune sind. Lesend möchte ich mich als vierte im Bunde fühlen, stoße mit ihnen an, nur dass ich mir keine Zigarette anzünde. Ich bin gespannt auf die sieben Nächte, die das Buch verspricht. Der Titel ist doch großartig: „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“. Nun, mit dem Betrinken klappt es schon mal …

Annett Gröschner, geboren 1964 in Magdeburg, ist als Autorin mehrerer Bücher bekannt. Peggy Mädler schreibt auch und führt Regie, Wenke Seemann ist Fotografin. Klar ist im Hintergrund des Projekts auch die Hoffnung auf Erfolg. Selbstbewusst ostdeutsch – die Bücher von Katja Hoyer und Dirk Oschmann haben „Welle“ gemacht. „Auf der schwimmen wir jetzt mit.“ So gar nicht verbissen, sondern mit Gelächter.

Ein literarischer Text, der die Anmutung des Mündlichen behält. Und dennoch brauchte es einen Plan für die sieben Nächte. Da haben sich die drei jeweils ein Thema vorgenommen, die Freiheit inklusive, auch plaudernd davon abzuweichen.  Locker, spontan – bei eingeschaltetem Aufnahmegerät spricht jede aus ihrer Sicht.

„Findet ihr eigentlich auch, dass die Zuschreibungen an die Ostfrau deutlich attraktiver sind?“, meint Peggy. „Also, ich möchte kein Ostmann sein … Die männliche Arbeiterfigur hatte in der DDR so eine enorme, positive Aufwertung erfahren, die natürlich mit der Realität nichts zu tun hatte … Heute dagegen liest man für die working class Begriffe wie ‚Prekariat‘, ‚Unterschicht‘. Da schwingt die ganze Deindustrialisierung mit. Und wenn dann Rassismus, Rechtsextremismus dazukommen, bist du ganz schnell bei Bildern von einem … Annett: … Mob. Wenke: Hässlich, arm, ungebildet. Weiß. Potenzielle oder tatsächliche AfD-Wählerschaft. Bedrohung oder Witzfigur. Das ist ein enormer gesellschaftlicher Sturz, der sich an diesem männlichen Arbeiterkörper festmacht. Da ist es fast egal, ob du Haus und Auto hast und zweimal im Jahr in den Urlaub fährst, es ändert nichts an deiner realen oder empfundenen Position im System.“

Das System BRD wird kaum in Frage gestellt. Und was die drei über die DDR wissen, kann vielfach nur angelesen sein. Peggy Mädler und Wenke Seemann sind 1989 noch zur Schule gegangen. Annett Gröschner studierte bis 1991 Germanistik in Berlin, kurzzeitig auch in Paris. Freiberufliche Künstlerinnen – in ihren Freuden und Nöten dürften sie Berufskolleginnen im Westen näher sein als Menschen aus dem Osten, die in anderen Berufen tätig oder in Rente sind.

Wieviel sie mal Rente kriegen, beschäftigt sie natürlich. Annett: „Das ist ja das Fatale, dass Leute wie wir, die kaum Geld haben, sich immer nach oben orientieren. So funktioniert die ganze Gesellschaft. Wir denken, wir gehören nach oben, anstatt zu sagen: Okay, ich bin jetzt solidarisch nach unten.“ Peggy: „In jedem Aufstieg liegt was drin, das dich nicht aufhören lässt. … Mit einem Bein stehst du noch in der Erfahrung, nichts zu haben. Mit dem anderen Bein stehst du in der Erfahrung, dass es aufwärts geht. Und im Kopf sitzt die Angst vor neuen Verlusten.“

Freimütige Zustandsbeschreibung des Gegenwärtigen: „Dazwischen“, nicht zugehörig, „immer auf dem Sprung“ sein, so Annett. „Ich möchte zum Beispiel nicht unter DDR oder ostdeutsch subsumiert werden. Der Osten in mir ist zersplittert.“ Wenke: „Zwischen den Stühlen tanzen ist ja auch nicht schlecht.“

Von diesem Tanzen fühlt man sich mal mitgerissen, mal befremdet. Manchmal erscheint die Leichtigkeit auch fehl am Platz. Man ist dabei, wie die drei bei Peggys Datsche nördlich von Berlin durch den Wald wandern bis zur ehemaligen FDJ-Jugendhochschule am Bogensee. Peggy: „So, erste Runde Wodka! Wir haben hier drei angebrochene Flaschen … Darf ich euch eine Bulette auftragen? Ein Gäbelchen dazu? …“ Wenke präsentiert eine Liste von Begriffen: „Privileg. Utopie. Selbstkritik. Selbstverpflichtung. Emanzipation. Solidarität. Kollektiv. Kapitalismus. Sozialismus. Vielleicht auch noch Demokratie. Fortschritt. Weltfrieden. Völkerfreundschaft.“ Sie hat  ein paar alte Konsum-Papiertüten mitgebracht. „Da können wir reintun, was wir von den Begriffen mitnehmen wollen.“ Peggy: „Ich weiß gar nicht, ob ich von den Begriffen überhaupt noch was mitnehmen will. Können wir die Tüten auch fürs Entsorgen verwenden?“

Comedy. Mein Problem: Ich hatte Tiefgründigeres erwartet. Aber das war wohl nicht angestrebt. Mach dich mal locker, sagte ich mir. Ist doch amüsant beschrieben, wie sich die drei, nicht mehr ganz nüchtern zurück zur Datschensiedlung tasten. Im dunklen Wald ein Rascheln. Wenke meint, gegen Wildschweine helfe nur, selber laut zu sein. „HOCH DIE INTERNATIONALE SOLIDARITÄT“, ruft Annett in Appellplatz-Lautstärke. Am nächsten Morgen sehen wir sie beim „Gummitwist“ hüpfen. Während sie den Begriff Dialektik klären wollen, müssen sie sich wohl verheddern.

Und wie ist es denn nun mit dem „idealen Staat“? Sie wissen nicht, wie der sein sollte und praktische Schritte dorthin liegen im Nebel. Da vertiefen sie sich in Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ Und fragen ein paar Freunde und Bekannte nach ihrer Meinung.

„Eigentlich möchte ich immer noch Weltbürgerin sein“, meint Annett, und Peggy hat schon einen Titel fürs nächste Buch parat: »Drei ostdeutsche Frauen essen Bratwurst in der Provinz«.

Annett Gröschner, Peggy Mädler, Wenke Seemann: Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat. C. Hanser Verlag, 320 S., geb., 22 €.

Weiter Beitrag

Zurück Beitrag

Antworten

 

© 2024 Literatursalon

Login