Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Sevim Dagdelen: Die NATO

Ein Friedensbündnis wäre gefragt

Sevim Dagdelen ist ohne Illusion, was die NATO betrifft

Irmtraud Gutschke

Ob die NATO-Mitgliedschaft Deutschland zugutekommt, manche scheinen das tatsächlich noch zu glauben. Dabei haben die Grünen in ihrem Wahlprogramm von 1987 gefordert, die Bundesrepublik möge sich der militarisierten Außenpolitik von NATO und USA entziehen und aus dem Militärbündnis austreten. Lange her. „Eine wünschenswerte Auflösung der NATO bei gleichzeitiger Schaffung eines alternativen kollektiven Sicherheitssystems scheint gegenwärtig in weiter Ferne zu liegen“, schätzt Sevim Dagdelen ein, die seit 2005 dem Deutschen Bundestag angehört. Inzwischen ist sie außenpolitische Sprecherin der Gruppe „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“. Dass ihr Buch „Die NATO“ vor solchem Hintergrund eine breite Öffentlichkeit erreicht, ist zu wünschen.

Sich durch das Militärbündnis beschützt zu fühlen, ist ein Mythos aus der alten Bundesrepublik, als der Bevölkerung die Angst vor dem „kommunistischen“ Osten eingeredet wurde. Indes bleibt festzuhalten, dass der Nordatlantikpakt am 4. April 1949 gegründet wurde und der Warschauer Vertrag erst im Mai 1955 als Reaktion darauf. Zwei Machtblöcke rangen im Kalten Krieg um Einfluss,  hielten sich aber auch gegenseitig in Schach. Als Gorbatschow die Hand zur Versöhnung ausstreckte, weil die UdSSR vom Wettrüsten überfordert war, wurde das jenseits des Atlantiks als Kapitulation verstanden, als Einladung zu unumschränkter Weltherrschaft.

Das alles ist einerseits wohlbekannt und wird andererseits ignoriert. Zu geopolitischen Fragen – USA, NATO-Osterweiterung, Europa, Ukraine-Krieg – gibt es schon viele dicke Bücher. Das vorliegende umfasst mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat gerade mal 128 Seiten. Die komprimierte, präzise Darlegung, die alle Aspekte des Themas umfasst, ist ein großer Vorzug.  

Zum 75. Geburtstag der NATO hat die Autorin alles andere als eine Eloge verfasst. In ihrer „Abrechnung“ geht es freilich weniger um emotionale Polemik als um rationale Analyse. Handelt es sich wirklich um ein Verteidigungsbündnis im Sinne von Völkerrecht, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Wertegemeinschaft und Menschenrechte?  Sevim Dagdelen misst die NATO an ihren hehren Maximen, die sie unablässig verraten hat. Dabei lässt sie Fakten sprechen, darunter auch solche, die man vielleicht inzwischen vergaß. Schon deshalb ist es gut, dieses Buch griffbereit zu haben. Man wird es garantiert zum Nachschlagen brauchen.

Dem entspricht die übersichtliche Gliederung. 12 Kapitel nebst Einleitung und Ausblick fassen historische Zusammenhänge und aktuelle Aspekte auf stimmige Weise zusammen. Anregungen zum Nachdenken gibt es dabei viele, sodass ich mich sehr auf das Gespräch mit der Autorin am 2. Oktober freue.

Was mir beim Lesen ins Bewusstsein rückte, ist die Dialektik  politischen Agierens, das nicht selten zum Gegenteil des Gewollten führt. Auf „Teufel komm raus“ wird entschieden und dabei vergessen, dass jede Reaktion eine Gegenreaktion zur Folge hat.

Der Nordatlantikpakt ist ja nicht so sehr ein  „Wertebündnis“, wie es im Untertitel des Buches heißt, sondern ein von den USA dominierter Machtblock, woran Sevim Dagdelen keinen Zweifel lässt. Dass US-Präsidenten sich subjektiv demokratischen Werten verpflichtet fühlen und an eine höhere Mission ihres Landes glauben, muss nicht mal in Abrede gestellt werden. Doch wie sich die USA mit diesem Vorsatz in die Belange anderer Länder einmischen, führt immer wieder zum Desaster, ja zu Verbrechen, wie sie hier auch aufgedeckt werden.

So absurd es klingt: Als sich die beiden Machtblöcke im Kalten Krieg  als Gegner sahen und notgedrungen verhandeln mussten, gab es in der Welt eine Balance, auch wenn es ein Gleichgewicht des Schreckens war. Nach dem Motto „The Winner Takes It All“ zogen USA und NATO inzwischen alle Register. Sie wollten Russland schwächen und zwangen es zur Stärke. Sevim Dagdelen zitiert den Diplomaten und Historiker George F. Kennan, der vor einer NATO-Osterweiterung warnte, weil dadurch nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit angeheizt würden. „Die NATO-Staaten öffneten mit der Kosovo-Anerkennung 2008 die Tür, durch die Russland in der Folge ging“, um seinerseits Unabhängigkeitserklärungen  (Abchasien, Südossetien, Donezk, Lugansk) zu unterstützen.

Sevim Dagdelen nennt den Angriff auf die Ukraine völkerrechtswidrig, erkennt aber auch die russischen Sicherheitsinteressen. Dieser Stellvertreterkrieg sei die bisher größte Herausforderung der NATO seit ihrer Gründung. „Allein der Umfang  der finanziellen Mittel stellt alles in den Schatten, was bisher von den NATO-Staaten in Kriegen und Konflikten eingesetzt wurde.“ Im Vergleich zu Russland gibt die NATO das 15-Fache für Rüstung aus. Dass US-amerikanische Konzerne davon am stärksten profitieren, versteht sich. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte würden jedoch „die Ressourcen, die Kriegsproduktion und die militärische Lernfähigkeit Russlands massiv“ unterschätzt. Der Wirtschaftskrieg, dem ein ganzes Kapitel im Buch gilt, ließ Bündnisse entstehen, die man sich früher nicht hätte vorstellen können. Der Westen ist dabei, seine Vormachtstellung zu verlieren.

Vor einem Atomschlag muss man sich in Washington ja weniger fürchten als in Europa. Ein „neues Denken im Atomzeitalter“ – worauf Gorbatschow einst vergeblich hoffte – ist heute notwendiger denn je. Statt eines Bündnisses für den Krieg würde es eines für den Frieden brauchen, Mut zur Diplomatie, Mut zur Neutralität, zurück zur Abrüstung und den Wirtschaftskrieg beenden. Denn „statt den Feind zu ruinieren, ruinieren die Sanktionen das eigene Land.“

Sevim Dagdelen: Die NATO. Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis. Westend Verlag, 128 S., br., 16 €.

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