„Hass trocknet die Seele aus“
Stefan Seidel sucht nach Auswegen aus Spaltung und Gewalt
Irmtraud Gutschke
„Die Zeit hat sich verhärtet. Verfeindung ist vielerorts so stark geworden, dass Verständigung und Verbundenheit zunehmend schwierig, wenn nicht gar unmöglich werden.“ – Wie Stefan Seidel sein Buch beginnt, nimmt er die Erfahrung vieler auf. Ob Corona-Krise, oder die vielfältiger werdende deutsche Parteienlandschaft, Zuwanderung oder Ukrainekrieg – Meinungsverschiedenheiten, die eigentlich normal sein könnten, werden zunehmend nicht mehr ausgehalten. Familien verfeinden sich, Freundschaften brechen auseinander. Um das zu vermeiden, flüchten sich viele ins Schweigen. Was einem auf dem Herzen liegt, wird nicht mehr besprochen.
Wobei das Private zugleich ein Spiegel des Politischen ist. Innenpolitisch und außenpolitisch. „Von höchster Stelle wurde eine ‚Zeitenwende‘ ausgerufen. Die Zeit wird auf Krieg getrimmt … Dieser erscheint als regelrechte Notwendigkeit, die nichts Geringeres ist, als der Endkampf zwischen dem Guten und dem Bösen“. Klare Worte, schlüssige Argumentationen – Stefan Seidel lässt keinen Zweifel an seiner Position: „Entfeindet euch“.
Der Krieg vor unserer Haustür macht Angst, auf die Menschen unterschiedlich reagieren. Die einen suchen Anschluss an regierungsoffizielle Erklärungen, die anderen wenden sich umso rigoroser von ihnen ab. Kriegslogik: Von Clausewitz über Carl Schmitt bis Judith Butler und Christa Wolf – immer wieder lässt Stefan Seidel Denkerinnen und Denker aus Vergangenheit und Gegenwart zu Wort kommen. Das ist bestärkend und ein großer Gewinn. Allein schon wegen der vielen Zitate möchte man das Buch um sich haben. Es ist, als ob da eine große Gemeinschaft entstünde von Menschen, die ähnliches erlebt und gedacht haben. Eine Gemeinschaft, in der man sich beim Lesen aufgehoben fühlen kann.
Was mich heute bewegt, darüber haben andere früher schon nachgedacht. Freilich geht es im Kriegen immer auch um rivalisierende Interessen. Aber liegt im Menschen womöglich ein Bedürfnis nach Reinigen, Abgrenzen, Bestrafen, fragt die Sozialanthropologin Mary Douglas. Wogegen versuchen wir uns zu schützen durch einen „Rückzug in die Enge“ des Ressentiments? „Geboren werden heißt mangeln“, so die Psychoanalytikerin Cynthia Fleuri. „Wir sind getrennt, allein und nicht beschützt.“ Mit diesem Bitteren umzugehen, ist wohl eine Lebensarbeit, bei der sich Menschen die Religion zu Hilfe holen können.
Stefan Seidel, geboren 1978, hat Theologie in Leipzig, Jerusalem und Heidelberg sowie Psychologie in Berlin studiert. Bezüge zur Bibel durfte man von diesem Buch erwarten. Die Vertreibung aus dem Paradies: ein Urthema der Menschheit. Im Buch „Genesis“ der Tora und des Alten Testaments sind die Folgen beschrieben: „Feindschaft mit der Natur, mit den Mitmenschen, mit Gott“. Da wird das Reich Gottes, das Jesus Christus auf die Erde bringen wollte, hier weniger als ein Zustand verstanden als eine Arbeit der Seele, eine Entscheidung die jedem einzelnen obliegt. „Friedenmachen“: Denn „Hass trocknet die Seele aus“.
„Die Christen sollen also keine Botschaft haben, sondern eine Botschaft sein“. So liegt „in der Bergpredigt das ‚himmlische ‚ Programm einer universalen Güte, die das ‚teuflische‘ Programm der Welt durchbricht, das immer wieder Böses mit Bösem zu überwinden versucht und es dabei verunendlicht.“ Gepredigt wird eine Lebensweise, zu der jeder einzelne Mensch die Macht hat. „Feindesliebe ist Nachahmung Gottes, der über Böse und Gute die Sonne aufgehen und über Gerechte und Ungerechte regnen lässt“, wird der Neutestamentler Gerd Theißen zitiert.
Freiwillig eigene Verwundbarkeit riskieren – da denke ich an die Überlegungen von Tschingis Aitmatow, wie er sie nicht erst in seinem Roman „Die Richtstatt“ laut werden ließ. Für Michail Gorbatschow war der kirgisische Schriftsteller ein Stichwortgeber. Der sowjetische Präsident wollte die Welt friedlicher machen, indem er Abschied nahm von der Politik des Wettrüstens, der die Wirtschaft seines Landes nicht mehr standhielt. Seine Hoffnung, dass die andere Seite dieses Beispiel aufnehmen würde, erfüllte sich indes nicht. Die Eskalation, die wir heute erleben, ist eine Folge davon.
Kann man den Geist der Rivalität wirklich überwinden? Indem man sich nicht die Logik des Bösen aufzwingen lässt, sich nicht mit dem herrschenden Machtprinzip identifiziert – auch nicht mit der Idee eines angeblich gerechten Krieges. Skrupel kultivieren, Lehren ziehen aus der blutigen Geschichte. Und die Gefahren kennen, wie man zum Verrat am eigenen Gewissen angestiftet werden kann. Da durfte im Buch auch das berühmte Experiment des US-amerikanischen Sozialpsychologen Stanley Milgram nicht fehlen. Der „Banalität des Bösen“, wie Hanna Arendt schrieb, kann man sich nur entziehen, indem man bei der Dämonisierung, Entpersönlichung des anderen nicht mitmacht, sich jeglicher vereinseitigenden Moralrhetorik verweigert.
Es sei laut Arendt „das Wesen totalitärer Ideologien, die das Individuum entmachten, indem sie seine Orientierungsfähigkeit vernichten und unbedingte Loyalität herstellen“. Das Buch hilft, diese Ideologie zu durchschauen, ermutigt zu kritischem Denken: „Die Illusion eigener Reinheit und Richtigkeit sowie totalisierte eigenen Ansprüche müssen aufgegeben werden. Sie weichen einem gemeinsamen Verantwortlichsein für das Ganze.“
Der Psychologe Gert Sommer beschreibt die Steigerung von Feindbildern in Krisenzeiten als fünfstufigen Prozess von anfänglicher Bereitschaft, Konflikte zu lösen, bis hin zu Totalisierung, Gegnerschaft und gegenseitiger Vernichtung. Es ist, als ob da ein Mechanismus in Gang gesetzt ist, dem wir nur noch unterworfen sind. Dagegen setzt Stefan Seidel Entschlossenheit, dem eigenen Gewissen treu zu bleiben.
Stefan Seidel: Entfeindet euch! Auswege aus Spaltung und Gewalt. Claudius Verlag, 125 S., br., 20 €.