Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

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Wolfgang Schmidbauer: Böse Väter, kalte Mütter?

In der Anspruchs-Falle

Irmtraud Gutschke

Werden diejenigen zu diesem Buch greifen, die unmittelbar betroffen sind? Eltern, die unter den Vorwürfen ihrer Kinder leiden, vielleicht, wenn sie nicht schon in ihren Schuldgefühlen gefangen sind. Ihre Kinder aber wahrscheinlich nicht. Denn das Fragezeichen im Titel lässt sie vermuten, dass ihre Anklage zum Teil abgewiesen werden könnte, dass der Autor nicht ganz auf ihrer Seite steht.

Wolfgang Schmidbauer gilt als einer der bekanntesten Psychoanalytiker Deutschlands; er hat schon mehrere Bücher verfasst. Was ihn dabei auszeichnet: Er analysiert nicht nur die seelischen Befindlichkeiten seiner Patienten, sondern betrachtet immer auch den gesellschaftlichen Zusammenhang. Wichtig ist ja zum Beispiel zu erkennen, dass Klagen „über Erziehungsfehler und Zuwendungsmängel der Eltern“ je weiter man in der Zeit zurückgeht, umso seltener werden. Erst in den letzten Jahrzehnten ist die Problematik so brisant geworden, dass wohl jeder, der dieses Buch liest, entsprechende Fälle aus ihrer, seiner Umgebung kennt.

Man muss sich diesen Unterschied klarmachen: „In vormodernen Kulturen ernähren und schützen die Eltern ihr Kind, solange es klein ist. Sobald es selbstständiger wird, ist es ebenso wie die Eltern Traditionen unterworfen, die über beiden stehen. Das ändert sich in der individualisierten Gesellschaft. Jetzt werden die Phantasien der Eltern mächtiger – und ebenso die des Kindes.“ Wenn sie sich gegenseitig ihre Ansprüche präsentieren, die ja gesellschaftliche Hintergründe haben, sind Konflikte programmiert. „Wie wir von guten Eltern alles Gute erhoffen, können wir fehlerhafte Eltern für alles Böse verantwortlich machen.“ Dabei haben erwachsene Kinder – Medien spielen dabei ebenso eine Rolle – eine genaue Vorstellung von dem, worauf sie ein Recht gehabt hätten.

Eigentlich ist es ja gar nicht so schwer: Man muss sich klar machen, was sich innerhalb einer Generation verändert hat, wie unterschiedlich die Belastungen waren. Verändert hat sich auch der Blick auf die Rolle der Geschlechter. Gewinn und Verlust verbinden sich. Packend wird das Buch durch die vielen Geschichten, die Wolfgang Schmidbauer erzählt. Eine Bäuerin wollte, dass sich ihre Tochter nicht mehr mit körperlicher Arbeit abrackern muss, und diese meint dann, sie hätte ihr zu wenig geholfen, glücklich zu sein. Oder eine anderer Vorwurf: „Ihr habt mich nie selbstständig werden lassen, ihr habt mir alles abgenommen.“ Dass sie doch ein zufriedenes, glückliches Kind gewesen sei, hält die Mutter dagegen. „Alles vorgetäuscht …, damit du weniger depressiv bist.“

Andererseits sind die Eltern enttäuscht, wenn das Kind wenig Freunde hat und schlechte Schulleistungen bringt. Und „die Heranwachsenden entwerten die Eltern, um sich vor deren Forderungen zu schützen“. Diese wiederum tragen ihre eigenen Kindheitserfahrungen mit sich. „Unglückliche Erwachsene werden besonders intensiv nach kindlichen Traumatisierungen suchen, wenn sie sich darüber schämen und schuldig fühlen, ehrgeizige Ziele nicht erreicht zu haben, mit denen sie ihre Eltern beeindrucken wollten.“

Dabei spielt es auch eine Rolle, wie das Problem des Zuwendungsmangels in der Kindheiten – der ebenso wie Gewalt nicht geleugnet wird – in populären Büchern trivialisiert worden ist. Misslungene Familienbeziehungen sind ein beliebtes Thema in Romanen und Filmen. Einer Trivialisierung unterliegen auch psychologische Kenntnisse. Jede, jeder kann sich heute diesbezüglich bewandert fühlen und sich ein Krankheitsbild konstruieren. Zugleich aber werden durch Psychologisierungen gesellschaftliche Defizite verdeckt.

Was alles Menschen widerfahren kann. De Geschichten, die Wolfgang Schmidbauer erzählt, lassen oft einfache Erklärungen wie auch einfache Lösungen nicht zu, „Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles!“ Diese Aussage Rilkes, meint der Autor, „gilt für die meisten hochidealisierten Beziehungen der Moderne“. Ansprüche seitens der Umwelt und der eigenen Person widersprechen oft einander und sind beim besten Willen nicht zu erfüllen. Überforderung als Zeichen unserer Zeit. „Wer seine Eltern realistisch einschätzt, sieht sie in einer Kette von Genrationen, mit ihren eigenen Möglichkeiten und Einschränkungen und ihren Versuchen, diese ihren Kindern zu ersparen. Er blickt auf Szenen, die ebenso tragisch wie komisch gesehen werden können.“

Da steht am Schluss des Buches das „Geheimnis der Gnade“. Fehler als möglich betrachten, statt sie unverzeihlich zu machen, Mittel gegen die „kalten Zwäng finden“. Andere Menschen sind kein „Eigentum, dessen Beschaffenheit wir bestimmen können“.

Wolfgang Schmidbauer ist ein Buch voller Lebensweisheit zu danken.

Wolfgang Schmidbauer: Böse Väter, kalte Mütter? Warum sich Kinder schlechte Eltern schaffen. Reclam, 176 S., geb., 18 €.

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