Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Amanda Cross: Thebanischer Tod

Antigone, zwei Hunde und ein Todesfall

„Thebanischer Tod“: Amanda Cross lässt Kate Fansler ermitteln und führt in die 70er Jahre

Von Irmtraud Gutschke

Ein Krimi, aber eine Leiche taucht erst auf Seite 127 auf. Langweilen mussten wir uns bis dahin freilich nicht. Amanda Cross (1926-2003) war als Krimiautorin berühmt. Mit ihrer Amateurdetektivin Kate Fansler hat sie eine eindrucksvolle Gestalt geschaffen: eine schöne, selbstbewusste, hochgebildete Frau, die, anders als viele Kriminalisten in der Gegenwartsliteratur, in ihrem Wesen völlig intakt ist. Sie ist wohlhabend, leidet unter keinerlei Anfechtungen, ist eine feministische Literaturwissenschaftlerin wie die Autorin und ist völlig frei in ihrem Denken. Von dieser Freiheit ist der Roman durchströmt, der, im Original 1971 erschienen, vor dem Hintergrund eines fast dreißigjährigen Krieges spielt, der manchen vielleicht gar nicht mehr im Bewusstsein ist und in dem man durchaus Parallelen zur Gegenwart entdeckt. Nordvietnam gegen Südvietnam – ein Stellvertreterkrieg der Großmächte.

Da taucht zu Beginn des Romans ein verängstigter Neffe bei Kate Fansler auf, der keinesfalls zum Militär eingezogen und gar nach Vietnam geschickt werden will. Deswegen hat ihn sein reicher, patriotischer Vater rausgeschmissen. Er hätte ihm ein ruhiges Plätzchen im Pentagon verschaffen können, aber der Junge meint: „Wer nicht gegen den Krieg protestiert, ist dafür.“ Fast gleichzeitig wird Kate aus einem Mädchengymnasium angerufen, dem „Theban“, in dem sie selbst gelernt hat. Die Direktorin bittet sie inständig, ein Seminar zu leiten – über Antigone. Die Schülerinnen des letzten Semesters haben sich das Thema ausgesucht.

Diese Schülerinnen sind schon anders als es zu Kate Fanslers Schulzeit war. Zwar wurden auch damals schon Jüdinnen aufgenommen, nur begüterte freilich, aber niemand wäre in langen Hosen oder Sandalen gekommen. Wie der konservative Geist diese Privatschule für Mädchen verlässt, welche Konflikte daraus entstehen, auch das macht diesen Roman so spannungsvoll. Das „Theban“ ist wie andere Schulen auch unter Druck. „Die Schüler möchten in ihnen die Vorreiter sozialen Fortschritts sehen, und Eltern und Lehrer betrachten es als ihre Pflicht, die Nachhut zu verteidigen.“

Kate Fansler durchschaut das alles, verdammt konservative Haltungen nicht, aber ihr Herz schlägt für den Aufbruch. Der Roman war eine gesellschaftskritische Stellungnahme zu seiner Zeit. Heute durchdenkt man ihn natürlich in Bezug auf die Gegenwart. Ist die kleine fortschrittliche intellektuellen Schicht in den USA bequem geworden, nachdem die individuell-liberalen Forderungen auch im feministischen Sinne erfüllt sind?

Im Roman ist diesbezüglich erst einmal etwas durchzusetzen. Wie Kate Fansler  Kreativität und kritischen Geist der Schülerinnen unterstützt und welche Rolle dabei die Antigone-Interpretation spielt, liest sich inspirierend. Die Diskrepanz zwischen dem individuellen Urteil und den Konventionen der Gesellschaft  erscheint als ewiges Problem. Das individuelle Gewissen und das Gebot des Staates war ja nicht nur ein Thema für griechische Dramatiker. Auch Amanda Cross hatte Lust, es zu durchdenken.

Der Buchumschlag zeigt zwei Hunde, die sich an einem Buch zu schaffen machen. In der Tat kommen zwei riesige Dobermänner im Roman vor, die der Schulwächter, ein militanter Typ, nachts zur Bewachung der Räumlichkeiten einsetzt. Haben sie vielleicht den Herzinfarkt einer Frau verursacht, die eines Morgens tot im Schulgebäude aufgefunden wurde? Es war die Mutter einer Schülerin. Was hatte sie im Haus zu suchen? Welche Spannungen gab es womöglich in ihrem Umfeld?

Kate Fansler ermittelt, unterstützt von ihrem Mann, der Anwalt ist. Und dabei erleben wir sie die ganze Zeit auch im Kreis ihrer Schülerinnen, deren unterschiedliche Persönlichkeiten im Roman gekonnt herausgearbeitet werden. Junge Mädchen auf der Suche – was wollen sie für ihr Leben? Nur eine standesgemäße Heirat? Über Jahrhunderte war es so, und erst langsam hat sich das verändert. Anerkennung als Frau in der Männerwelt: Was bedeutet es, die von Männern umworbene Frau zu spielen, und was, darauf bewusst zu verzichten? Wie umgehen mit Frust und Wut? Und wie umgehen damit, dass man aus einer reichen Familie kommt, abgehoben bis zur Kälte und womöglich verstrickt in Schuld?

Ein Krimi mit angenehm dosierter Spannung. Doch fast wichtiger ist für mich, wie dieses Buch voller Lebensweisheit steckt.

Amanda Cross: Thebanischer Tod. Kate Fensler ermittelt. Aus dem Amerikanischen von Monika Blaich und Klaus Kamberger. Dörlemann Verlag, 281 S., br., 19 €.

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